Regionalstaaten im Wettbewerb

Das Programm des Europa der Regionen lebt von Kulturchauvinismus und wirtschaftlichen Partikularinteressen.

Die Szene entbehrte nicht einer gewissen Komik: Am 2. März hielt das schottische Parlament seine erste Sitzung seit mehr als 600 Jahren in gälischer Sprache ab. Da nur drei Abgeordnete des keltischen Idioms mächtig waren, verfolgten die anderen 126 die Debatte als Simultanübersetzung über Kopfhörer. Dass alle Parlamentarier selbstverständlich in der Lage gewesen wären, sich in hervorragendem Englisch zu verständigen, während der Erste Minister Donald Dewar schon Schwierigkeiten hatte, auch nur seine Funktionsbezeichnung in halbwegs korrektem Gälisch zu artikulieren, spielte keine Rolle mehr - Sprache ist im Parlament des nach einem hohen Grad von Autonomie strebenden Schottland kein Mittel zur möglichst problemlosen Verständigung mehr, sondern Ausdruck einer angeblichen eigenen Identität.

Wo eine Autonomiebestrebung ist, da muss auch eine Identität sein - und wenn erst das wissenschaftliche Personal der Universität Glasgow bemüht werden muss, um den Parlamentariern einen Einsteigerkurs in ihrer angeblichen Muttersprache zu geben. Denn wenn in Europa über »Regionen«, über »Subsidiarität« und »lokale Verantwortung« geredet wird, dann dürfen Begriffe wie »Identität«, »regionale Traditionen« und »kulturelles Erbe« nicht fehlen.

Meisterhaft pflegt Deutschlands oberster Heimatpfleger, der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber, diesen Gedanken zum Ausdruck zu bringen: »Die Regionen«, zitierte ihn seine Staatskanzlei nach einer Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing im Januar, »seien der Trumpf Europas im Wettbewerb der Kulturen. Wirtschaftlich starke Regionen seien das Rückgrat für den Wirtschaftstandort Europa. Europa brauche die Regionen außerdem zur Bewahrung von Identität und Geborgenheit in der zunehmend globalisierten Welt, für bürgernahen Verwaltungsvollzug und nicht zuletzt für die innere Stabilität der Gesellschaft.«

Diese Überhöhung des Heimeligen, des angeblich Gewachsenen, der ahistorische Bezug auf eine als homogen wahrgenommene regionale Identität, zählt zu den Hauptursachen des Rassismus in Europa. Doch auch für Politiker, die nicht jener ethnopluralistischen Rechten angehören, die sich dieses Programm auf die Fahnen geschrieben hat, ist die Verführung groß, die eigene Region in solcher Weise zu idealisieren. Denn mit dem Argument der regionalen Partikularität lassen sich Mittel der Regionalförderung locker machen, können Regional-Vertreter das Recht einfordern, unter Umgehung der Nationalstaaten direkt in Brüssel in eigener Sache tätig zu werden. Wer sich einmal auf das Spielchen des »Wir Bayern/Lappen/Flamen/Korsen usw.« eingelassen hat, für den gibt es keinen Weg mehr zurück. Die Falle steht offen, und in ganz Europa gibt es kaum eine regionalistische Partei, die noch nicht hineingetappt wäre.

Das betrifft erstaunlicherweise sowohl wirtschaftlich starke Regionen, bei denen es offensichtlich ist, dass sie sich von Transferzahlungen an die jeweiligen ärmeren Landesteile befreien wollen - wie die in der Arbeitsgemeinschaft »Vier Motoren für Europa« zusammengeschlossenen Regionen Lombardei, Rh(tm)ne-Alpes, Katalonien und Baden-Württemberg - als auch die Empfänger dieser Zahlungen, wie etwa Wales, Andalusien oder Korsika.

In Deutschland ist es vor allem die bayerische Staatsregierung, die mit Schlagworten wie »Laptop und Lederhose« und »Mir san mir« kräftig die Identitätstrommel rührt. »Europa«, das buchstabiert sich auf Bayerisch als »Europa der Regionen«, und im Brüsseler Ausschuss der Regionen ist Stoiber neben dem Kärntner Landeshauptmann Jörg Haider einer der rührigsten Kämpfer für die regionale Autonomie. Das 1993 mit dem Vertrag von Maastricht eingerichtete 222 Mitglieder starke Gremium hat zwar im Machtgefüge der EU nur beratende Funktion; es hat sich jedoch auf Grund seiner Besetzung lediglich mit Vertretern kommunaler und regionaler Gebietskörperschaften zur bedeutendsten Schaltstelle des Europäischen Regionalismus entwickelt. Immer wenn auf Gipfelkonferenzen der EU-Staaten weiter reichende Entscheidungen getroffen werden, hebt hier großes Gezeter an, und nicht selten tritt der bayerische Ministerpräsident oder einer seiner Epheben als Verteidiger subnationaler Sonderinteressen auf.

Zuletzt war es wieder einmal so weit, als der EU-Sondergipfel am 23./24. März in Lissabon zum Thema »Beschäftigung, Wirtschaftsreform und sozialer Zusammenhalt« tagte. Im Bundestag schäumte anschließend am 4. April Reinhold Bocklet, Bayerns Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten. Seinen Zorn hatten jedoch nicht die programmatischen Beschlüsse der in Lissabon versammelten - mehrheitlich sozialdemokratischen - Regierungschefs erregt: Dass auch die CSU längst keine Lust mehr hat, über Ziele wie »Hohes Wirtschaftswachstum, Vollbeschäftigung, Modernisierung der Sozialschutzsysteme, Verringerung der Armut und die Anpassung der Ausbildungssysteme an die Erfordernisse der modernen Wissensgesellschaft« zu streiten, gab auch Bocklet zu.

Ihn erzürnte vielmehr eine, wie er meinte, »neue Methode europäischer Politikgestaltung«, die als Verfahren der »offenen Koordinierung« in Lissabon beschlossen worden war. Dabei ging es darum, dass die EU unter Federführung des aus den Regierungschefs und den Außenministern bestehenden Europäischen Rats Leitlinien und Zeitpläne für Vorhaben etwa in den Bereichen Bildung, Technologie, Umwelt und Beschäftigung erlassen und deren Umsetzung auch überprüfen kann - nach Ansicht von Bocklet eine »fundamentale Systemänderung in der Europäischen Union« und eine »staatspolitische Gefahr«. Schließlich sei etwa die Bildung in Deutschland Ländersache.

Dabei unterschlägt der bayerische Minister, dass bereits mit der Einheitlichen Europäischen Akte 1986 die EU stark erweiterte Befugnisse in den genannten Bereichen erhielt, was vor allem mit der Notwendigkeit begründet wurde, das wirtschaftliche Gefälle zwischen armen und reichen Mitgliedsländern und auch zwischen einzelnen Regionen innerhalb der Länder abzubauen. De facto sind also die Gebietskörperschaften - von den Mitgliedsstaaten bis hinunter zu den Gemeinden - auf vielen Gebieten bereits Vollzugsorgane Brüssels, wenn auch Vollzugsorgane mit zumeist gewaltigem Gestaltungsspielraum.

Bayern treibt jedoch - und unter sozialdemokratischer Dominanz im Bund wie in der EU erst recht - die Angst um, Brüssel könnte durchsetzen, was Bonn bislang verwehrt blieb. »So gibt der Europäische Rat beispielsweise als Ziel die Weiterentwicklung von Schulen und Ausbildungszentren zu 'lokalen Mehrzweck-Lernzentren' vor. Diese sollen allen offen stehen und ein möglichst breites Spektrum von Zielgruppen erreichen«, beklagte sich Bocklet. »Was soll man sich darunter vorstellen? Eine europäische Gesamtschule?«

Es geht Bocklet nicht um Bildungspolitik. Die Gegnerschaft zur Gesamtschule, das ist in Bayern mehr als eine ideologische eine Frage der regionalen Souveränität. Doch auch dieses Prinzip gilt nur so lange, wie es ums eigene Selbstbestimmungsrecht geht. Anderen regiert nämlich auch ein überzeugter Regionalist wie Stoiber ganz gerne mal hinein.

Zu beiden Seiten der bayerisch-tschechischen Grenze erstrecken sich die Euro-Regionen Bayerischer Wald und Regio Egrensis. Vor allem die 1992 gegründete Regio Egrensis, die auf eine Initiative des umtriebigen, unter sudetendeutschem Einfluss stehenden Münchener Internationalen Instituts für Nationalitätenrecht und Regionalismus (Intereg) zurückgeht, dient Bayern inzwischen zu teilweise massiver Einflussnahme im Nachbarland. »Dort, wo zwei Völker oder Volksgruppen den gleichen Raum beanspruchen«, begründete Intereg-Chef Rudolf Hilf das Engagement seiner Organisation für das Euregio-Abkommen mit Vertragspartnern, die er ansonsten vermutlich eher als slawische Usurpatoren betrachten würde, »kann man sich auf eine gemeinsame grenzüberschreitende Region einigen, die Territorien beider Staaten umfasst und die in einem von den beiden Staaten vorgegebenen räumlichen Rahmen autonom regiert wird.«

Dabei durften die Erfahrungen bereits einkalkuliert sein, die in den schon seit den fünfziger Jahren an der deutsch-niederländischen Grenze bestehenden Euro-Regionen gesammelt werden konnten. Die Sogwirkung des wirtschaftlich stärkeren Partners - was nach Lage der Dinge heißt: Deutschlands - führt dazu, dass dieser auch in Fragen von politischer Bedeutung den Ton angibt. Obwohl es anderswo in Europa ebenfalls Euro-Regionen gibt, sind mittlerweile vor allem die deutschen Grenzen von ihnen gesäumt.

In der grenzüberschreitenden Euro-Region, die kulturelle Gemeinsamkeiten betont, während sie das wirtschaftliche Gefälle instrumentalisiert, hebt sich der Scheinwiderspruch zwischen Nationalismus und Regionalismus auf. Wo ihre Interessen nicht kollidieren, können der kleinräumige und der großräumige Chauvinismus einander sehr wohl dienen.