Sozial-Wahlkampf in den USA

Welfare to Poverty

Der US-Wahlkampf zu sozialen Themen spielt sich auf niedrigstem Niveau ab.

Niemand weiß, was das neue Zauberwort New Economy eigentlich genau bedeutet, aber es scheint etwas Großartiges zu sein. Etwa eine Million US-Amerikaner hat sie in den letzten fünf Jahren zu Millionären gemacht. Ein wahrer Geldregen ist über New York und San Francisco niedergegangen, den Städten, wo die Angestellten der Investmentbanken sowie die Gründer und Aktionäre der Internetklitschen, also die Gewinner des Börsenbooms der letzten Jahre, bevorzugt leben.

Eine dreiviertel Million Dollar verdient der durschnittliche New Yorker Wohnungskäufer pro Jahr, sein Vermögen beläuft sich auf 4,6 Millionen Dollar. Diese Nachfrage hat die Mieten in exorbitante Höhen geschraubt. In Manhattan kosten Wohnungen mittlerer Lage und Ausstattung bis zu 45 Dollar (100 Mark) pro Quadratmeter. In San Francisco kostet eine durchschnittliche Zwei-Zimmer-Wohnung 2 000 Dollar (4 500 Mark). Kein Problem für die Profiteure der Börsenrekorde, für die meisten anderen aber schon. Mehr als die Hälfte der US-Amerikaner konnte nach eigenen Angaben vom Boom der letzten Jahre nicht profitieren. Kein Wunder, schließlich gehören vier Fünftel der Aktien den reichsten fünf Prozent der Bevölkerung.

Während die Zahl der Reichen während der Amtszeit William Clintons deutlich zugenommen hat, haben sich die Lebensbedingungen der Armen verschlechtert. Ein Fünftel der Kinder lebt unterhalb der Armutsgrenze. Vor allem die soziale Sicherheit wurde in den letzten Jahren ausgehöhlt. 1996 hat die Clinton-Regierung den Anspruch auf lebenslange Sozialhilfe abgeschafft. Jedem Einwohner steht jetzt während seines ganzen Lebens insgesamt nur noch fünf Jahre lang Sozialhilfe zu, davon maximal zwei Jahre am Stück. Wer nach zwei Jahren keine Arbeit hat, geht betteln. Allerdings haben die Bundesstaaten, in deren Verantwortlichkeit das Wohlfahrtssystem 1996 gefallen ist, die Möglichkeit, bei einem Fünftel ihrer Sozialhilfeempfänger eine Ausnahme zu machen.

Seit 1996 ist deren Anteil an der Gesamtbevölkerung von 4,8 Prozent auf 2,6 Prozent oder 6,3 Millionen gesunken. Abgefedert werden die Sozialkürzungen durch das »Welfare to Work«-Programm, das den ehemaligen Sozialhilfeempfängern Jobs verschafft. Das Programm wird unterstützt von der »Welfare to Work Partnership«, in der sich rund 20 000 Unternehmen freiwillig zusammengeschlossen haben, die inzwischen etwa 1,1 Millionen ehemalige Sozialhilfeempfänger beschäftigen. Zu diesen Firmen zählen neben anderen auch United Airlines, Citigroup und United Parcel Service. Der durchschnittliche Stundenlohn liegt mit 7,80 Dollar um 2,65 Dollar über dem staatlichen Mindestlohn. Drei Viertel der neu Beschäftigten kommen in den Genuss einer vom Arbeitgeber mitfinanzierten Krankenversicherung (44 Millionen US-Amerikaner haben keine), knapp die Hälfte der ehemaligen Sozialhilfeempfänger kann ihre Rente durch eine subventionierte private Zusatzversorgung aufbessern.

Da bereits Clinton die soziale Sicherung de facto abgeschafft hat, ist es für den demokratischen Präsidentschaftskandidaten Al Gore jetzt nicht schwer, sich vor der Wahl ein soziales Image zu verpassen, indem er ein paar kosmetische Änderungen verspricht, etwa höhere Ausgaben für die Schulen. Zudem sollen die Krankenkassen Medikamente für alte Menschen bezuschussen.

Gore hofft, mit diesen Versprechen die sozialdemokratische Stammwählerschaft seiner Partei für die Wahl mobilisieren zu können, denn der Marktfundamentalismus seines Rivalen George Bush ist noch rabiater: Dieser beabsichtigt, auch noch die Renten zu beschneiden. Im Gegensatz etwa zur deutschen Altersvorsorge, die den Anspruch erhebt, den Lebensstandard zu erhalten, ist die US-amerikanische Version schon heute nur eine Grundsicherung; der Staat sorgt nur fürs Überleben. Bei jedem Beschäftigten werden 12,4 Prozent des Einkommens für den Ruhestand abgezogen, die Höhe der Rente ist aber unterschiedlich: bei Geringverdienern bis zu 90 Prozent des letzten Einkommens, bei Reichen nur 25 Prozent. Dieser Transfer stört Bush. Er möchte, dass zwei Prozentpunkte des Rentenbeitrags auf Privatkonten der Versicherten abgezweigt werden. Während Gore die Rentenversicherung in ihrer jetzigen Form beizubehalten verspricht und die erwarteten Beitragsüberschüsse der nächsten Jahre für die Sicherung der Altersversorgung verwenden möchte, setzt Bush auf Steuersenkungen. Er ruft sogar dazu auf, ihn an der Einhaltung seines Versprechens zu messen, er werde die Steuern um insgesamt 1,3 Billionen Dollar senken.

Noch ist die soziale Katastrophe ausgeblieben, die die Aushöhlung des Sozialhilfe-Anspuchs durch Clinton erwarten ließ. Das liegt aber hauptsächlich daran, dass die Vereinigten Staaten sich derzeit in einem beispiellosen Wirtschaftsboom befinden. Seit 1990 erleben die US-Amerikaner die längste Wachstumsphase im 20. Jahrhundert mit jährlichen Steigerungsraten, von denen alle anderen Industrieländer nur träumen können. Vor allem diesem Boom ist es zu verdanken, dass so viele ehemalige Sozialhilfeempfänger einen Job finden konnten. Die Folgen der Aushöhlung der sozialen Sicherheit werden sich erst in der nächsten Rezession zeigen. Denn in einer Phase des Abschwungs sitzen die wenig Qualifizierten immer als erste auf der Straße. Das gilt insbesondere für die von der »Welfare to Work Partnership« aus Imagegründen Beschäftigten, denn für Imagepflege haben die Unternehmen in der Rezession kein Geld mehr.

Seit den siebziger Jahren ist in den USA zu beobachten, dass sich die Kluft zwischen Arm und Reich vergrößert. Der Durchschnittslohn für einen Arbeiter ohne College-Ausbildung ist heute um acht Prozent niedriger als 1972. Der Grund hierfür ist vor allem der Zuwachs an Niedriglohnjobs mit geringer Produktivität im weitgehend gewerkschaftsfreien Dienstleistungssektor. Gleichzeitig sind relativ gut bezahlte Hilfsarbeiterstellen in der gewerkschaftlich organisierten Industrie verloren gegangen. Zwischen 1965 und 1998 hat sich der Anteil der Hilfsarbeiter in der Industrie von 30 auf 15 Prozent halbiert. Im selben Zeitraum erhöhte sich die Beschäftigung im Dienstleistungs- und Einzelhandelssektor von 30 auf 48 Prozent aller Lohnabhängigen.

Besonders erstaunlich ist das Sinken des Reallohns angesichts der Tatsache, dass die Amerikaner heute wesentlich mehr arbeiten. In der Regel sind beide Ehepartner berufstätig, und meistens haben sie noch einen Nebenjob. In einer durchschnittlichen Familie mit zwei Kindern haben Mutter und Vater 1997 zusammen 3 860 Stunden gearbeitet, 28 Prozent mehr als 1979. 3860 Stunden, das sind bei den in den USA üblichen zwei Wochen Urlaub pro Jahr und ohne Krankheit 77 Stunden pro Woche. Phantastische New Economy.