ÖTV-Gewerkschaftstag

Friedliebende Kleinkrämer

Die Gewerkschaft ÖTV ist in der DDR angekommen. Weit draußen vor den Toren Leipzigs tagt der voraussichtlich letzte ordentliche Gewerkschaftstag und in der Stadt kriegt niemand etwas mit. Deutlicher kann eine Gewerkschaft nicht zeigen, wie weit sie vom Geschehen entfernt ist.

Da tagen sie, die Kleinkrämerseelen der deutschen Gewerkschaftsbewegung, und müssen froh sein, dass sich die Bevölkerung nicht für sie interessiert. Es geht schließlich erbärmlich zu in den Leipziger Messehallen. Satzungsfragen stehen im Vordergrund. Mit einer solchen kleinlichen Debatte umschifft man die politische Generalauseinandersetzung.

Bis zum Wochenende sollen die 650 Delegierten der mit 1,5 Millionen Mitgliedern zweitgrößten Gewerkschaft Deutschlands die Weichen in Richtung Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) stellen. Das wäre das Pflichtprogramm. Zur Kür eines jeden Gewerkschaftstages aber gehört die tarifpolitische Debatte. Für die ÖTV gäbe es hier einiges aufzuarbeiten. Die zurückliegende Tarifrunde wurde lautstark eröffnet und endete mit einem Trauermarsch. Die Gewerkschaftsführung hielt sich strikt an die vom Bündnis für Arbeit vorgegebene Mäßigungslinie, was der Chefdenker Wolfgang Streeck unlängst als den »bisher einzigen Erfolg des Bündnisses« wertete. Über den Zusammenhang zwischen Tarifpolitik im Bündnis für Arbeit und vermeintlich leeren Staatskassen müsste im Interesse der Basis dringend geredet werden. Und darüber, wie die ÖTV die privatisierungsbedingten Tarifsenkungen stoppen möchte.

Bisher wurde durchgesetzt, dass sich die Tarife in ehemals öffentlichen und privatisierten Betrieben nach unten bewegen. Der Bundesangestelltentarifvertrag (BAT) wird von der ÖTV wie ein Schild hochgehalten, ein Schild allerdings, das viele Durchschusslöcher hat. »Tarifkorridore« nennen das die Tarifstrategen. Aber in der neuen Großgewerkschaft werde alles besser, lassen die ver.di-Befürworter wissen. Wie dort mit den vorhandenen Widersprüchen umzugehen wäre, darüber schweigen sie sich lieber aus. Interessant wäre es auch, zu erfahren, wie sich die ÖTV auf die ver.di-Tarifpolitik einlassen will.

Die Delegierten sparen sich jedoch aus Barmherzigkeit eine Debatte über die sperrige Materie und überbrücken die Zeit mit Scheingefechten. Auch die Kritiker haben eingesehen, dass ver.di nicht mehr zu vermeiden ist, und die Parole ausgegeben: »Wir dürfen uns nicht isolieren.« Und weil man sich mit dem eigenen Chef Herbert Mai die ver.di-Spitzenstellen sichern will, darf man diesem nicht schaden. Tarifpolitische Misserfolge endeten in der ÖTV stets mit der Demontage der oder des Vorsitzenden. Da Mai bereits Kommunikationsunfähigkeit in Sachen ver.di vorgeworfen wird, darf man ihn also nicht noch zusätzlich mit tarifpolitischem Dreck bewerfen.

Dabei könnte alles auch ganz anders kommen, wenn zum Beispiel Delegierte die wunden Punkte ansprechen würden. Dann wäre Hauen und Stechen angesagt. Für den Fall, dass eine Demontage Mais absehbar ist, will die Kongress-Regie die Versammlung allerdings unterbrechen, damit sich die Führung neu einstellen und eine personelle Alternative präsentieren kann. So weit aber wird es wohl nicht kommen.