Rotgrüne Abschiebungen in NRW

Garantiert reisefähig

Angriffsziel Wanderkirchenasyl: Trotz anders lautender Zusagen schiebt die rotgrüne NRW-Regierung Aktivisten der Flüchtlingsinitiative ab.

Im Sommer des Antifaschismus setzte das nordrhein-westfälische Innenministerium nicht nur auf die Mobilisierung der Zivilgesellschaft gegen rechte Gewalt. Nach Informationen von Flüchtlingsunterstützern wies es zugleich die Ausländerbehörden an, verstärkt »aufenthaltsbeendende Maßnahmen« gegen »illegale« Migranten einzuleiten und entsprechende Amtshilfeersuchen aus anderen Bundesländern zügig zu bearbeiten. Die Mobilisierung behördlicher Gewalt richtete sich besonders gegen die rund 120 kurdischen Flüchtlinge, die seit Januar 1998 ein prekäres Dasein im Wanderkirchenasyl fristen.

Mittlerweile vergleichen kirchliche und linke Flüchtlingshelfer die NRW-Abschiebepolitik mit der in Bayern. Schon zu Jahresanfang hatte sich eine schärfere Linie abgezeichnet. Vier Teilnehmer des Wanderkirchenasyls waren abgeschoben worden; eine Sprecherin der Flüchtlinge entging ihrer Abschiebung nur knapp.

Seit August wurden nun vier weitere Kurden festgenommen. Mehmet Sagir hatte Glück. Das Verwaltungsgericht Köln erkannte an, dass er »bei einer Rückkehr in die Türkei einer asylrechtlichen Verfolgung ausgesetzt sein wird«, und verfügte seine Freilassung. Auch für Halil Arslan konnte die Abschiebung per Eilantrag noch abgewendet werden.

Anders hingegen erging es Mehmet Kilic. Der Sprecher der Wuppertaler Gruppe des Wanderkirchenasyls war am 5. Oktober festgenommen worden. Der Petitionsausschuss des NRW-Landtages prüfte daraufhin noch einmal seine Asylgründe und stellte fest, dass sie stichhaltig seien. Anders als bislang üblich, ignorierte das zuständige Ausländeramt Bergisch-Gladbach dieses Votum und setzte die Abschiebung rigoros durch. Ein Paderborner Amtsarzt befragte Kilic ohne Dolmetscher und kam zu dem Ergebnis, dass die erlittene Folter in der Türkei, die Misshandlung seiner Angehörigen und die Hinrichtung seines Bruders den Abzuschiebenden nicht traumatisiert habe und er folglich »reisefähig« sei.

Kilic trat daraufhin in einen Hungerstreik. »In der türkischen Presse erschienen Artikel über mich mit Name und Foto«, erklärte er. Dort sei zu lesen gewesen, dass er im Wanderkirchenasyl gegen die Türkei aktiv gewesen sei. »Deshalb habe ich ein unbefristetes Todesfasten begonnen. Wenn ich schon sterben muss, dann lieber hier als unter der Folter in der Türkei.« Eine Woche später schoben ihn die Behörden mit ärztlicher Begleitung ab.

In Istanbul verschleppten ihn Zivilpolizisten, verhörten ihn eine Woche lang und verlangten auch Informationen über seine exilpolitischen Aktivitäten. Sie drohten, in der Bundesrepublik belastendes Material zu beschaffen, und misshandelten ihn durch Schläge, die so angesetzt wurden, dass sie möglichst keine sichtbare Spuren hinterließen. Nach seiner Freilassung tauchte er unter.

Kurz zuvor war Hüsseyin Calhan, der Sprecher des Aachener Wanderkirchenasyls, festgenommen worden. Auch in seinem Fall ignorierten die Behörden ihre bisherige Praxis, ein Votum des Petitionsausschusses faktisch anzuerkennen. In einem Schreiben vom 16. Oktober legte das Innenministerium dem zuständigen Ausländeramt Wesel nahe, Calhan möglichst noch vor der Entscheidung des Gremiums abzuschieben. Erneut attestierte der Paderborner Amtsarzt »Reisefähigkeit«. In seinem Gutachten widersprach er mehreren Fachärzten, die Calhans in türkischer Folter erlittene Traumatisierung festgestellt hatten. Schläge sei »Herr C. seit seiner Schulzeit gewohnt gewesen«. Sein Verhalten zeige, »dass er darunter nie nachträglich gelitten hat«. Auch Calhan begann einen Hungerstreik. Am 31. Oktober wurde er in die Türkei gebracht, wo er sich vorsichtshalber dem behördlichen Zugriff entzog.

Dass mit Kilic und Calhan Repräsentanten des Wanderkirchenasyls abgeschoben wurden, lässt nach Ansicht des Netzwerks kein mensch ist illegal auf eine veränderte Politik der Landesregierung schließen. Als Gegenleistung dafür, dass die Flüchtlinge ihre ursprüngliche Forderung nach einem kollektiven Bleiberecht im Januar 1999 faktisch aufgaben, hatte das Innenministerium eine wohlwollende Überprüfung aller Einzelfälle »oberhalb der Aktenlage« zugesichert. In der Folge war es einigen Betroffenen gelungen, ihren Aufenthaltsstatus schrittweise wieder zu verfestigen. Die juristisch zwar unverbindlichen, faktisch jedoch meist maßgeblichen Empfehlungen des Petitionsausschusses eröffneten dabei vielfach die Chance auf eine Wiederaufnahme des Asylverfahrens und, damit verbunden, die Legalisierung.

Seitdem aber dieses Gremium ignoriert wird, können gerade diejenigen abgeschoben werden, die sich am stärksten gegen die Menschenrechtsverletzungen in der Türkei und für ein Bleiberecht engagiert haben - und die dadurch zum Ziel der türkischen Exekutive wurden. Auch in anderen Fällen setzen sich die Behörden neuerdings über den Petitionsausschuss hinweg. So signalisierte das Innenministerium Mitte Oktober der Zentralen Ausländerbehörde in Düsseldorf, bei der Abschiebung zweier hungerstreikender Tamilen nicht auf den Ausgang des Petitionsverfahrens warten zu wollen.

Im Sommer des Antifaschismus verschob sich jedoch auch die öffentliche Wahrnehmung. Vor allem die Fälle Kilic und Calhan wurden als Exempel einer inhumanen Wende der nordrhein-westfälischen Asylpolitik begriffen; sie wurden zu Auslösern lokaler Solidaritätsbewegungen, die sich am Motiv des zivilgesellschaftlichen »Aufstands der Anständigen« orientierten, es zugleich jedoch gegen die verschärfte Abschiebepolitik wandten.

Dabei karikierten bereits die Umstände der Festnahme Calhans den seichten Antirassismus der »Mitte«. Der Mann war am Rande eines Multikulti-Events der Aachener Zeitung vom Bundesgrenzschutz verhaftet worden, als er eine kurdische Musikgruppe zu ihrem Auftritt abholen wollte. Der BGS war zugleich Mitveranstalter des Events. Die täglichen Mahnwachen, mit denen Aachener Unterstützer gegen die Festnahme protestierten, fanden in rotgrünen, kirchlichen und selbst christdemokratischen Milieus ein unerwartetes Echo. Bischof, Oberbürgermeister und Stadtrat appellierten an Innenminister Fritz Behrens, Calhan ein Bleiberecht zu gewähren, und boten an, ihn in Aachen aufzunehmen. Die Lokalpresse besuchte ihn im Abschiebeknast und veröffentlichte seine Hungerstreikerklärung im Wortlaut.

Als der Termin näherrückte, riefen Prominente wie Günter Grass und Günter Wallraff dazu auf, die Nacht betend vor dem Abschiebegefängnis in Büren zu verbringen und sich am Morgen »der drohenden Abschiebung von Hüseyin Calhan entgegenzustellen«. Zweihundert Menschen folgten dem Aufruf. Sechs Bundestagsabgeordnete von Grünen und PDS forderten ein vorläufiges Bleiberecht und eine erneute Einzelfallprüfung aller Illegalisierten im Wanderkirchenasyl. Am Tag der Abschiebung - die Bürener Anstaltsleitung hatte Calhan rechtzeitig vor Beginn der Mahnwache abtransportieren lassen - kommentierten die Aachener Nachrichten, Behrens trage nun »für alles, was Calhan in der Türkei passiert«, die Mitverantwortung.

Für eine kurze Zeit und an einem bestimmten Ort war im »Aufstand der Anständigen« eine Opposition sichtbar geworden, ohne dass freilich wesentlich mehr als eine »gerechtere« Durchführung der Einzelfallprüfungen verlangt worden wäre. So verwundert es nicht, dass sich das Aufbegehren nach vollzogener Abschiebung wieder in symbolische Politik verwandelte: in eine Rücktrittsforderung der Aachener Grünen an den Minister Behrens, von der jeder weiß, dass nicht einmal die eigene Landtagsfraktion sie ernst nehmen wird.