Theo Parrish, Doctor.L und das Anti-Pop Consortium

Haltloses Glück

Für Theo Parrish, Doctor.L und das Anti-Pop Consortium ist alle Musik an einem Ende angelangt.

Populäre Musik läuft auf einen Fluchtpunkt zu: Der Ort, der die Musik zusammenhält und für Identifikation sorgt. Das kann der Song sein, der Groove (One nation under a groove), die Wahrheit (HipHop als CNN der Schwarzen) und natürlich: der Star. Was aber, wenn all das, was die Musik konstituiert, ungewiss geworden ist? Dann gerät die Musik in die Krise, taumelt, reißt Gewissheiten mit sich in den Abgrund, schwingt sich zu Größenwahn auf oder gelangt zu einer Selbstreflexivität, die von außen nur mehr als Hermetik oder Wahnsinn - oder beides - rezipiert werden kann.

Doctor.L (Paris), Theo Parrish (Detroit) und das Anti-Pop Consortium (New York) haben in den letzten Monaten Platten veröffentlicht, die das Zerbröseln der Gewissheiten thematisieren. Jedem dieser Projekte lässt sich ein Genre zuordnen: Soul im Fall von Doctor.L, House bei Theo Parrish und HipHop beim Anti-Pop Consortium. Alles Genres, die sich über einen oder mehrere dieser archimedischen Punkte definieren lassen, die schon zahlreiche Krisen und Auflösungserscheinungen hinter sich haben und die doch hier - beim Versuch, vom Kopf auf die Füße gestellt zu werden - ins Bodenlose stürzen.

Doctor.L, der 31jährige Franco-Ire Liam Farrow, setzt auf Hyperproduktivität, als gelte es den gottgleichen, in sich perfekten stabilen Track in immer neuen Anläufen zu umkreisen, um ihn vielleicht doch noch zu treffen. Neben dem 75minütigen Album »Temple On Every Street« sind noch zwei, ebenfalls abendfüllende Maxis erschienen. Macht drei Stunden Musik. Macht vor allem drei Stunden Verknüpfen und Vernähen von Fragmenten, drei Stunden Vermischen und Synthetisieren von unterschiedlichen Stilen und Genres. Wie auf seinem Debüt »Exploring The Inside World« von 1998 konstituiert sich der innere Zusammenhalt der Musik durch sich zigfach überlagernde Achsen und Fragmente, die noch im Zusammenwirken als Bruchstücke kenntlich bleiben.

Deshalb ist es müßig, das neue Album in ein Verhältnis zum Debüt zu setzen, etwa: Damals klang das so und so, heute macht er das und das. Doctor.L arbeitet nicht in diesen Relationen, sondern in Kontinuitäten, die er übereinander legt - sodass die Kontinuitäten (Soul, Dub, Jazz, Afrobeat, auch Grunge) zwar mit sich identisch bleiben können, aber im Zusammenklang stets unterschiedliche Schnittmengen bilden. Man muss sich Sisyphos als einen bekifften Produzenten vorstellen. Wer soll sich das anhören?

So sehr sich die Alben von Theo Parrish und dem Anti-Pop Consortium davon auch unterscheiden mögen - auch sie laufen aus der Spur. »Parallel Dimensions« ist Theo Parrishs zweites Album und es hört sich an, als würden die altgedienten Avant-Jazzer vom Art Ensemble Of Chicago House produzieren. Das Album ist gleichzeitig Dekonstruktion und Rekonstruktion des Genres, es verweigert sich den Regeln und Riten von House, reiht ihn aber gleichzeitig in die Galerie der »Great Black Music - From Ancient To The Future« ein.

»Great Black Music ...« - dieser Slogan ist tatsächlich vom Art Ensemble und bezeichnet eine Arbeitsweise, die westafrikanische Percussionmusik, Funk, Neue Musik und Free Jazz gleichberechtigt und am liebsten gleichzeitig zur Aufführung bringt. Dieses Bewusstsein, das gleichzeitig so historisch ist wie egalitär - da E- und U-Distinktionen souverän ignoriert werden -, ist auch bei Parrish präsent, nur dass er die verwendeten und zitierten Stile und Genres auf verhältnismäßig wenige Samples reduziert. So klingt die Musik verwirrend und vertraut, minimalistisch und abwechselungsreich zugleich - immer hart am Verlust der Stringenz operierend.

Auch »Tragic Epilogue« zieht die HörerInnen in einen Strudel. Eine düstere Platte, deren Hooklines man sich erst mühsam im Kopf zusammenbasteln muss: und tatsächlich, diese querlaufende Basslinie passt - irgendwie - zu den seltsam fragmentierten Beats und den atemlosen, merkwürdig synkopierten Raps. Die Musik des Anti-Pop Consortiums strahlt nicht bloß eine apokalyptische Stimmung aus - was ja nach wiederholtem Hören auch ziemlich langweilig würde. Sie scheint unsynchronisiert und doch wie am Schnürchen gezogen. Das ist unheimlich. Der Trick: das Samplematerial basiert auf Avantgarde-Elektronik und Free Jazz. Zwar dienen die Sounds immer noch der Illustration der Raps, aber bei aller Funktionalität hört man ihnen an, dass sie aus non-funktionaler Musik generiert wurden. HipHop ohne HipHop. Auch hier die Frage: Was motiviert die Musik?

Auf ihre Weise sind diese Musiken an einem Endpunkt angelangt. Das, was man sich von ihren Genres versprochen hat, vom erlösenden Rave bis zum artikulierten Protest, hier findet man es nicht mehr eingelöst. Was bleibt ist die Überdrehung, das obsessive Sich-Verlieren in Details, die Erforschung der inneren Welt, ein »Temple On Every Street«, wohin man sich zurückzieht und den inneren Frieden sucht. Der ist aber definitiv verloren. Die Bezüge zum House, zum Conscious-Hop oder zu den kollektiven Exzessen Sun Ras sind bloß noch abstrakt herleitbar: über Soundmodulationen, über Samples, die zwar historische Kontinuität transportieren, aber unmittelbar als musikalisches Material eingesetzt werden, also ihren archivarischen Charakter wieder verlieren.

Die Düsternis dieser Platten entsteht nicht durch eine bestimmte Stimmung, sie ergibt sich aus dem Material. Es ist die unablässige Verdichtung des Mate-rials, das das Gefühl von Ausweglosigkeit erzeugt. Die Musik tritt uns hier in einer extremen Überspanntheit gegenüber, in einem Zustand, der sich keinen Star, keinen Song, keinen Nationen einigenden Groove und keine griffige Botschaft leisten kann und will. Weil diese Begriffe durchgekaut und ohne Perspektive sind. Wenn das Böse in der Welt durch den guten Song schon tausendmal gebannt wurde, es real aber immer noch da ist, dann besteht ein begründeter Anlass, das Medium der Kunst zu hinterfragen. Etwa indem man sich der Haltlosigkeit stellt. So halten die drei Produzenten im Sturz den alten Genres die Treue und verhelfen ihnen retrospektiv noch einmal zu Glanz und Gloria.

Doctor.L: »Mountains Will Never Surrender«, »The Give Away Box«, »Temple On Every Street«. Fat (Jive/ Zomba).

Anti-Pop Consortium: »Tragic Epilogue«. 75 Ark (Zomba).

Theo Parrish: »Parallel Dimensions«. Sound Signature (Import via Groove Attack).