Zehn Jahre deutsche Einheit

Revolution ist schwer, wenn keiner sie will

Zehn Jahre Deutsche Einheit: Wie das demoralisierte Bewusstsein die Linke erfasste.

Die vereinte Nation gab der Demoralisierung des Bewusstseins zwar einen Schub, aber vieles von dem, was Linken die Revolution und das eigene Leben schwer macht, war schon vorher da: der falsche Glaube an das Soziale im Markt; das integrierte Denken, das auf die Gnade des Herrn und das Gelingen des Ganzen verpflichtet ist; der stete Angriff auf das »Anspruchsdenken« der 68er und die Müdigkeit von Ex-Revoluzzern, die nun immerfort Tabubrüche beisteuerten. Dazu kam die große Gehirnwäsche. Der Ruin des Ostblocks, weniger sein unsympathisches Gesicht, suggerierte dem Wuppertaler, in einem guten Kaufhaus zu leben. Fleiß und Unterwerfung schienen sich gelohnt zu haben, sonst würde der gesamte Osten doch nicht um solche Zustände betteln. Der Markt-Darwinismus, der die Auslese von Siegern und Verlierern in permanenter Konkurrenz unter Staaten, Firmen und Menschen regelt, setzte sich totalitär in die Köpfe. Der Markt war nun nicht mehr nur die beste aller schlechten Welten, sondern die einzige Welt.

Mit der Einheit korrigierte Deutschland die Folgen seiner Gräueltaten. Die Suche nach deutscher Identität, die sich mit der Bevorzugung vor anderen verschwistert, griff um sich, und die weltweite ethnische Selektion, die der im Lande entspricht, erschien immer naturhafter. Deutsche Hegemonie, die mit Europa unter deutscher Führung gedacht wird, wurde wieder greifbar. Das 20. Jahrhundert wurde pauschal als Gewaltverhältnis der Moderne verworfen, um sowohl die Erinnerung an Auschwitz als auch die Befreiungsgedanken der Revolutionen zu beseitigen. Soziale Befreiung sollte zum Relikt eines falschen Menschheitsbildes aus einer vergangenen Epoche verkommen. Gleichzeitig ließ man globale Machenschaften den Standort, der früher Vaterland hieß, bedrohen. An der Spitze das vagabundierende Finanzkapital, das ans Judentum erinnern soll. Alte Freunde durften nun zu bösen Angloamerikanern mutieren, deren »artfremder« Shareholder Value deutsche Traditionen immer besser machte.

Das Globale löschte das Subjekt aus und es wuchs die Schicksalsgemeinschaft heran, die dumm und willfährig macht: »Es gibt heute nichts mehr zu verteilen, weil die Wirtschaft jedes Jahr um drei Prozent wächst, soll von der Globalisierung kommen.« Der Untertan pries den Präsidenten Herzog, der ihm die Risikogesellschaft, die das in Klassenkämpfen angesammelte Soziale für die Sanierung des Gesamtprofits beseitigt, als völkischen Auftrag einbläute und dazu die »Führung« wiedergebar, die sich über »Bedenkenträger« und »Interessenvertretung« unbeirrt hinwegzusetzen habe. Kanzler Schröder nahm die Gnade der späten Geburt jetzt unverfrorener in Anspruch als Helmut Kohl. Honoratioren wollten mit Walser die Erinnerung an Auschwitz auslöschen. Gegen die Serben wurde Krieg gemacht. Otto Schily verweigerte allen Flüchtlingen das Asyl, um den Blödköpfen zu sagen, dass sie keinen Haider bräuchten, weil er selbst ihnen bereits Recht gebe.

Wer seine Kritikfähigkeit und die Vision von einer besseren Gesellschaft einbüßt, ist den Strafen für abweichendes Verhalten ausgeliefert, Isolation und Versorgungsentzug. Leistung und Rücksichtslosigkeit reifen dann zur schicksalhaften Natur, kritische Reflexion und Solidarität gelten als unbequem oder verdächtig. Einige sind gelähmt, weil sie ahnen, dass der Tod der überschüssigen Menschen die Lohnnebenkosten am nachhaltigsten senkt. Andere telefonieren hektisch mit, getrieben von Konsum, Lifestyle, Fitness oder Esoterik, die dem Sozialdarwinismus kosmische Weihe verschafft. Der rechte Wahn steht Pate.

Sehnsüchte ohne Ausweg, Verdinglichung und Leblosigkeit in diesem System reproduzieren ohnehin den Hass auf Menschen, die anders aussehen und in denen noch Leben vermutet wird. Ostdeutsche plagt noch mehr. Nach der Vereinigung war ihr Rabatt verflogen. Sie erfuhren, dass auch sie in einem Kapitalismus mit Menschenüberschuss das auswechselbare Nichts sind, das leider durchgefüttert werden muss. Dass sie um ihren Betrug gebettelt hatten, erregt ihre Wut, die der autoritäre Charakter gegen jene vollstreckt, die als Andere gebrandmarkt sind und der Schutzlosigkeit preisgegeben werden. Den Sozialdarwinismus hatte der Westen ihnen gereicht.

Die Linke war nicht gut vorbereitet auf das, was kam. Sie hatte oft verbessert, statt zu negieren, hatte den deutschen Frieden gegen ausländische Raketen verteidigt, lokalpatriotisch im guten Stadtteil die Nation im Kleinen, mit den Grünen die Kompetenz fürs Ganze, in alternativen Betrieben Marktwirtschaft geübt. Für die, die klüger waren, galt aber ebenso: Auch mit bester Theorie und Praxis war gegen die Symbiose aus Macht und Regression kein Kraut gewachsen. Revolution ist schwer, wenn sie keiner will. Wer dafür die Linke verantwortlich macht, glaubt an die Kraft ihrer Worte und treibt sie zur Verzweiflung. Dass mit dem Proletariat nichts los ist, kommt vor. Auch Rosa Luxemburg lief es weg, um fürs Vaterland in den Krieg zu ziehen, nicht weil alles falsch war, was sie von sich gab. Die Linke bekam nun die Rache am Übermittler der schlechten Botschaft zu spüren. Auf Miesmacherei zurückgeworfen zu sein, macht einsam. Dass auch der Antiimperalismus hässlich wurde, verdarb internationale Sympathien, die manchmal über Stockungen hinweggeholfen hatten. Wer mag schon mit Gaddafi, Saddam oder Milosevic befreundet sein?

Die meisten Linken raffte dahin, was Adorno so ansprach: »Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen.« Einige verdummten schon früh. Sie lobten den dumpfen Ruf nach Vaterland und D-Mark, interpretierten ethnisch-rassistische Selektionen als Selbstbestimmungsrecht der Völker, beschmunzelten die mangelnde Produktivität im Osten. Sie huldigten so dem Kernprinzip des Kapitalismus und fanden - mit oder ohne PDS - den Markt immer besser. Man spürte, dass die Verlierer der Geschichte endlich mal auf die Seite der Sieger wollten. Das Siechtum traf die Linke durchweg. Auch jene, die das Parlament als Sünde identifiziert hatten, vor der sie sich gefeit wähnten. Die Systemkräfte wirken überall.

Niederlagen machen müde, und in Metropolen trifft Müdigkeit auf die Möglichkeit, sich ökonomisch einzubetten. Für Linke ist viel vorgesehen in Werbung, Therapie, Beratung, Grüner Partei, taz, Arbeitslosen-Wiederherstellung, New Economy oder sonstwas. Er bastelt am Verkehr, sie macht alternative Anlageberatung, beide wagen das spannende Experiment mit der eigenen Familie, das klügste Kind, Wohnen auf dem Lande und Versöhnung mit den Eltern inklusive. Irgendwann trinkt man italienischen statt französischen Wein, tankt Texaco und nicht Shell, um es denen mal marktkonform zu zeigen. Für viele beginnt der Ernst des Lebens schon nach dem Ende des Studiums und mit ihm die Esoterik: Ich verdiene Geld; was will mir das sagen? Die Einfügung in die praktische Gesellschaft, die mit der Reproduktion zusammenfällt, macht nicht zwangsläufig blöde, aber oft. Viele halten es nicht aus, dass ihr Tun fürs Geld nötig, aber sonst Quatsch ist. Der Bewusstseins-Schwund zeigt, dass die Linke mehr in die Gesellschaft integriert war und ist, als diese ihr je zugestanden hat.

Angepasste Theorien und angepasste Politik spiegelten die Krise der Linken und trieben sie gleichzeitig voran. Postmoderne Linke ersetzten Wahrheiten durch eine Subjektivität, die aber im Duktus der letzten Wahrheit die Moderne geißelte und den Konsumtrottel in den Rang eines entwickelten Individuums hob. Andere versöhnte das Primat der sozialen Frage mit dem verkümmerten Massenbewusstsein. Sie kritisierten antirassistische oder antideutsche Politik als verkürzt, weil beide die Hinwendung zum Proletariat stören. Das Proletariat will von den Linken genauso wenig wissen wie von seinem eigenen Antisemitismus, Rassismus oder Nationalismus. Beide Ansätze sind erfolglos, im Unterschied zur Solidarität mit Verfolgten ist die soziale Frage aber dehnbar bis zur PDS, deren neue »Annäherung an die Gesellschaft« nur zur regierenden Verwaltung des deutschen Imperialismus taugt.

Der Respekt für das Objekt der Begierde kann ohne das Kriterium »kritisches Bewusstsein« gruselig werden. Ein PDS-Fraktionschef im Landtag meinte, wem das Wasser bis zum Hals stehe, der greife halt zum Baseballschläger. Karl Heinz Roth entdeckte in der rassistischen Menschenjagd eine soziale »Protestform« mit falschem Emblem, Wolfgang Fritz Haug einen »entfremdeten sozialen Protest«. Der Rassist protestiert nicht, auch nicht falsch. Er begreift sich als Vollstrecker dessen, was von oben sanktioniert ist. Nationalismus und Rassismus sind genauso wie patriarchale Gewalt soziale Fragen im existenziellen Sinne. Sie bedrohen das Leben und nehmen jeder Emanzipation die Luft zum Atmen. Verrohen sie die Gesellschaft, ist es um die soziale Frage geschehen. Auf der Gegenseite scheiterten einige Antideutsche an ihrer Molochisierung des Deutschen. Wie von allen guten Geistern verlassen, appellierten sie an Thatcherismus oder US-Imperialismus, damit die »uns« vor Deutschland retten.

Kriege sind besondere Katalysatoren. Dann müssen die im Westen angekommenen Linken die Zivilisation vor fremder Barbarei retten, im Golf-Krieg sogar zusammen mit Antideutschen, die nach dem deutschen Militär riefen, das sie selbst in der Kontinuität der Wehrmacht sehen. Die rot-grüne Bombardierung der Serben übertraf die gemeine Rettung der Zivilität. Deutschland erlangte nach verordneter Abstinenz wieder Kriegsreife und deshalb lud jeder Kriegsgegner, selbst der Pazifist, jetzt Schuld am herbeigelogenen Völkermord auf sich. In beiden Kriegen beteiligten Linke sich an der Entsorgung deutscher Geschichte. Im ersten wurde Hitler ein arabisches, im zweiten Auschwitz ein serbisches Phänomen.

Hat man woanders Barbaren ausgemacht, kann die Rettung des Zivilen uferlos werden. In konkret wurde mit der Türcke-Debattedie die blöde Lüge, man könne das Anders-Sein von Menschen an der Haut ablesen, ausgerechnet gegen den Anti-Intellektualismus verteidigt, und später setzte Wolfgang Pohrt gegen unser »mitleidiges Herabschauen« auf Flüchtlinge deren »Vitalität und Tatkraft«. Der Fremde habe »Strapazen ausgehalten, unter denen wir zusammenbrechen (...) und kapitulieren« würden. Das neue »Herrschaftssystem« zöge aus diesem Potenzial seine »Führungskräfte« heran und: »Warum soll unsereiner diesen Prozeß mit rührseligen Kommentaren begleiten?« Die Zivilisation wurde zum Kampf gegen die phantasierte Omnipotenz des Naturhaften aufgerufen.

Andere Linke betrieben eifrig die Fatalisierung des Globalen. Sie spalteten den Kapitalismus in einen schaffenden guten und einen raffenden bösen, wobei die bösen Finanzen in einem Rutsch Klassen, Nationen und die Reproduktionsfähigkeit der Menschheit auflösten. Robert Kurz appellierte mit seiner »Anforderung an die Gesamtgesellschaft« an die Schicksalsgemeinschaft. Dazu passte, dass der Holocaust nicht von Deutschen, sondern »von der Logik der warenproduzierenden Moderne« betrieben worden sei. Im neuen »Schwarzbuch« wachsen US-Fordismus, Sowjetunion und Nationalsozialismus zu einer »Katastrophenphase« zusammen. Deren »innere Identität« scheine in zwei Momenten auf: »abstrakte Arbeit« und »Führerkult«. Lohnarbeit, Sowjet-Versuch und NSDAP-Staat, in dem Juden nur zu ihrer Ermordung geborenen wurden, ein identisches Gewaltverhältnis der abstrakten Arbeit? Noch mehr Identität verspricht nur der Umstand, dass das letzte Hemd keine Taschen hat. Man muss nur das falsche Kriterium wählen, wenn man das im Verschiedenen liegende Wesen mit Heidegger einebnen will. Sollte die Linke das erquicken, soll sie siechen.

Damit Massen und Linke gar keinen Anhaltspunkt mehr haben, fehlt noch eines: die Entmaterialisierung der Welt. Bei Kurz oder auch in einem Jungle World-Nachdruck aus Bahamas ist das »warenproduzierende Weltsystem gestürzt«. Der Kapitalismus habe nun »keine Ziele« mehr. Die darüber »in Panik« geratenen Politiker führten Kriege »als ziellose Rivalität um ihrer selbst willen«, aber auch, weil »eine gelungene Militäraktion das Fondskapital« in den Raum bewege, oder weil der »Kredit« in Form des »kriegerischen Überfalls« loslege. So wird's sein. Ein verrückter Kredit macht Krieg, weil nichts mehr zu holen und zu ordnen ist und das Fondskapital belohnt den Unsinn. Eine philosophische Rückkehr zur Ideengeschichte, die in diesem Fall den Volksmund bestätigt, der das Ganze auch nicht mehr begreift, aber weiß, dass die da oben machen, was sie wollen.

Dass alte Linke resignieren, ist normal. Aber warum wachsen junge Rebellen so spärlich nach? Anfang der sechziger Jahre konnten SchulabgängerInnen zwischen fünfzehn Jobs wählen, damals brauchte die Modernisierung Nachschub, und jemand, der aus rebellischen Gründen geflogen war, wurde in vielen Kneipen als Held gefeiert. Heute gilt er nur als Versager. Mit der Nachfrage nach der Arbeitskraft senkt sich subtil der Selbstwert, und der Schutz ist weg. Risiko-Arbeit im High-Tech-Zeitalter verwandelt vor allem die Jugend in konsumtive Image-Gruppen, die jemand nur mit derselben Angst verlässt, die auch den Austritt aus der Sekte erschwert. Denken wird ein kreativer, spannender Beitrag zum Ganzen oder es zählt nichts. Geisteswissenschaften sind Verbraucher-Analyse oder zwecklos. Der Kapitalismus modernisiert sich. Er hat die Integration ins Ganze raffiniert verdichtet, indem er die Menschen auch in der Zirkulation in Experten und Vergnügte verwandelt, für die immerfort etwas vorgesehen ist, und das Just-in-Time-Prinzip zum Tempo des Daseins macht. Betriebsamkeit erschlägt rund um die Uhr das Sanfte, Behutsame, Liebevolle und Langsame. Alle sind sportiv, um Gesundheit und Leistungsbereitschaft zu signalisieren.

Das System verdient halt nicht deshalb Revolution, weil es zu wenig Arbeitsplätze bietet, sondern weil es die vielen Fähigkeiten und Bedürfnisse der Menschen - ihre Wünsche, Ideen, Lust, Kunst, Sensibilität, Musik, Liebe, Sehnsucht nach Freiheit, ihr Spiel - tagtäglich ausmerzt, um an die Stelle aller Möglichkeiten zwei Dinge zu setzen: Arbeit und Konsum. Wer das begreift, wird auch den projektiven Wahn gegen andere, den die eigene Verdinglichung auslöst, reflektieren. Nur in diesem Sinne ist die soziale Frage beides: soziale Befreiung und Antirassismus.