Safter Çinar, Sprecher des Türkischen Bundes Berlin Brandenburg

»Die Realität ist multikulturell«

Als es galt, die Demonstration »für Menschlichkeit und Toleranz« am 9. November vorzubereiten, hatte man sie nicht einmal eingeladen. Wenn auch verärgert, mobilisierte der Türkische Bund Berlin Brandenburg dann doch zu der Aktion. Trotz deutscher Leitkultur und rot-grüner Ausländerpolitik. 21 Vereine - vom Sportclub bis zum Frauenverein - sind in dem 1991 gegründeten Dachverband organisiert, um die Interessen türkischer Migranten und Migrantinnen zu vertreten. Safter Çinar, Sprecher des Türkischen Bunds Berlin Brandenburg und Stellvertretenden Vorsitzenden der Türkischen Gemeinde in Deutschland.

War es für Sie kein Problem, zu einer Demonstration aufzurufen, an der sich auch Parteien beteiligen, deren Politik Sie sonst kritisieren?

Nein, die müssen ein Problem haben, nicht wir. Man hat an vielen Gesichtern gesehen, dass sie mit Paul Spiegels Rede nicht einverstanden waren. Ich denke, man wird es ihnen vorhalten, wenn sie einen solchen Aufruf unterzeichnen und dann mit den üblichen Thesen und Diffamierungen weitermachen. Die Frage ist natürlich, was jetzt im Alltag und in der Politik passiert.

Ein Gegenbegriff zur »deutschen Leitkultur« der CDU war ja die multikulturelle Gesellschaft ...

Die Diskussion um diesen Begriff finde ich seit zehn Jahren total daneben und sehr ideologiebeladen. Die multikulturelle Gesellschaft ist kein Konzept. Man kann sie weder verordnen noch verbieten, sie setzt sich im Alltag durch. Und auch diejenigen, die meinen, man müsse diesen Begriff bekämpfen, leben heute multikulturell. Das Problem ist, dass es jetzt opportunistische Tendenzen gibt, sich von der Idee der multikulturellen Gesellschaft abzusetzen. Dadurch erscheint es so, als ob die Konservativen, die immer dagegen gekämpft haben, irgendwie Recht bekommen hätten. Aber die Realität wird multikulturell bleiben, zumindest solange wir hier einen demokratischen Staat haben. Die Begriffe kann man sich dann weiter um die Ohren schlagen.

Müsste man nicht einen Begriff suchen, der mehr Freiheiten lässt, damit Leute nicht folkloristisch auf eine Herkunftskultur festgelegt werden?

Richtig. Die Frage ist nur, ob man überhaupt einen Begriff suchen muss. Man kann doch sagen, lasst die Leute leben. Das einzig Bindende sind Gesetze und bestimmte globale Normen, alles andere wird man sehen. Diese Diskussion um Multikulturalität hat die typisch deutsche Dimension, immer alles definieren und ausfüllen zu müssen. Auch der alte und gar nicht so schlechte Begriff des Verfassungspatriotismus wird jetzt als Ersatz angeführt. Deshalb will ich ihn auch nicht übernehmen. Die krampfhafte Suche nach einem Begriff hat natürlich mit der deutschen Geschichte und den Identitätsproblemen in diesem Land zu tun. Insofern kann man das teilweise verstehen, man muss aber nicht auf jeden Zug aufspringen.

Kann man ohne Begriffe Politik machen?

Ja, aber wir wollen, dass die Migranten und Migrantinnen gleichgestellt werden, dass die Zuwanderung in zivilisierten und durchsichtigen Formen abläuft, dass es für die Menschen, die hierher kommen, Unterstützung gibt, damit sie sich schnell einleben können - darüber sollten wir diskutieren, nicht darüber, wie wir das dann nennen.

Die Grünen haben jetzt mit dem Drei-Säulen-Modell ihren Vorschlag zur Zuwanderung präsentiert - was sagen Sie dazu?

Es gibt natürlich eine linke Kritik an diesem Modell, weil Einschränkungen vorgesehen sind. Aber wir haben immer gesagt, dass es unterschiedliche Formen von Zuwanderung gibt, die unterschiedlich geregelt werden müssen. Spannend wird, wie diese Quoten dann aussehen, wer darüber bestimmt und wie flexibel sie sein werden. Aber im Prinzip sind das Forderungen, die wir schon vor zehn Jahren erhoben haben.

Ist der Vorschlag, getrennte Quoten für die drei Säulen zu erheben, nicht am Ende bloß eine Optimierung der für Deutschland »nützlichen« Zuwanderung?

Bei der Säule mit Rechtsanspruch auf Asyl und Familienzusammenführung gibt es ja keine Quote. Und bei der Zuwanderung nach wirtschaftlichen Notwendigkeiten finde ich die Quote völlig in Ordnung. Wichtig ist aber, dass auch diese Leute mit der Perspektive eines Daueraufenthaltes und von Anfang an mit ihren Angehörigen hierher kommen dürfen und nicht solche idiotischen Diskussionen wie bei der Green-Card ausgelöst werden.

Aber auch die humanitär begründete Zuwanderung soll mit Quoten geregelt werden.

Das Problem ist weniger die Quote als die Tatsache, dass eine Krisensituation nach der jetzigen EU-Übereinkunft einstimmig als solche deklariert werden muss. Da wird natürlich immer ein Land dagegen stimmen. Man kann sich sogar vorstellen, dass die Länder sich absprechen, damit jedes Mal ein anderes blockiert. Ansonsten muss man schauen, ob die Quote dann so rigide gehandhabt wird, dass Leute, die eigentlich aus humanitären Gründen kommen müssten, nicht kommen können. Wenn sich das so entwickelt, kann man ja immer noch weiter sehen - es ist ja keine Bibel, die nicht zu ändern wäre.

Der Grünen-Abgeordnete Cem Özdemir hat gesagt, dass die Positionen der Grünen und der CDU gar nicht mehr so weit auseinander liegen würden. Sind die Parteien auf dem Weg zum großen Zuwanderungskonsens?

Es ist sicherlich nicht schlecht, wenn man in dieser Frage einen Konsens oder Kompromiss findet, den viele tragen können, also auch die Migrantenorganisationen. Denn es nützt keinem, wenn dieser Disput wieder in den Wahlkampf hineingeführt wird. Das sollte man vermeiden - wenn das möglich ist, ohne dass der Kompromiss auf die Substanz geht.

Die CDU macht Integration sehr stark am Erwerb der Sprache fest, auch die Grünen sagen, das sei ein wichtiger Bestandteil. Finden Sie das auch?

Ja, nur wird die Sprache mittlerweile zu einem Fetisch gemacht. Wenn jemand die Sprache angeblich oder tatsächlich nicht beherrscht, wird das als Rechtfertigung genommen, um zu sagen: Der will sich nicht integrieren, der will sich nicht anpassen und ist vielleicht nicht ganz gleichwertig. Das ist es, was uns stört. Wir werfen dem Menschen die fehlenden Sprachkenntnisse nicht vor, wir wollen, dass die Politik Anreize und Angebote macht, damit die Leute die Sprache lernen.

Aber wenn es Anreize gibt, läuft das doch schnell auf ein Bonussystem hinaus. Wer nachweisen kann, dass er oder sie Deutsch gelernt hat, darf dann eher hier bleiben.

In diesem Land gibt es ein Problem: Man schlägt etwas als Ganzes vor, und dann wird von der Politik nur der negative Aspekt aufgegriffen und sofort umgesetzt. Als wir vor drei Jahren zum ersten Mal das niederländische Modell mit Anreizen für Sprachkurse in die Diskussion gebracht haben, hat die Berliner CDU den Vorschlag gemacht, schon vor der Visumserteilung für die Familienzusammenführung den Nachweis über Deutschkenntnisse zu verlangen. Das ist natürlich Unfug. Genauso großer Unfug und rechtlich unhaltbar ist es, Leuten, die die Sprache nicht gelernt haben, die Aufenthaltsgenehmigung nicht zu verlängern. Aber ich halte es für legitim, Anreize zu schaffen und zu sagen, wer da regelmäßig teilnimmt - die Erfolgsprüfung braucht man nicht - bekommt sofort einen verfestigten Aufenthaltsstatus, kann gleich arbeiten, ein Gewerbe ausüben und vielleicht schneller eingebürgert werden. Wenn man einen Einwanderungsprozess gestaltet, dann muss man auch solche Sachen einbauen.

Wenn das grüne Modell durchkommen würde, mit drei Säulen und großzügigen Quoten, wären Sie damit glücklich?

Das wird sich zeigen, wenn klar ist, was das für die Praxis bedeutet. Ich habe aber angesichts der Erfahrungen mit Rot-Grün - vor allem mit Grün - ein anderes Problem: Hoffentlich kommt hier nicht, wie bei der Staatsbürgerschaft, genau das Gegenteil von dem heraus, was gefordert wurde. Aber dieses Mal werden wir aufpassen.