Israelisch-palästinensischer Konflikt

Der Aufstand wird libanisiert

Der palästinensische Kampf nimmt immer mehr die Züge eines Unabhängigkeitskrieges an. Die israelische Armee agiert entsprechend.

Als Jassir Arafats nationaler Sicherheitsrat am Freitag das Verbot erließ, israelische Siedlungen und Einrichtungen zu beschießen, fragten sich israelische und internationale Medien, inwieweit die Palestinian National Authority noch über die Macht verfüge, die Einhaltung derartiger Verbote auch durchzusetzen. Denn die Zusammenstöße zwischen israelischen Soldaten und palästinensischen Milizionären gingen einfach weiter.

Schon seit Wochen reißt die Diskussion nicht ab, ob Arafat die Ende September ausgerufene »Al-Aqsa-Intifada« unter Kontrolle hat oder ob nicht längst Hardliner um den Tanzim-Milizen-Führer Marwan Barghouti die faktische Kontrolle über die Verlaufsform des Konfliktes ausüben. Ohne Einfluss sind jedenfalls im Moment die gemäßigten Berater und Unterhändler Arafats, Abu Mazen und Abu Ala, die 1993 federführend für das Oslo-Abkommen verantwortlich zeichneten. Von ihnen waren in den letzten Wochen keine Stellungnahmen zu hören, während Barghouti in den Medien omnipräsent ist. So verkündete er beispielsweise im israelischen Armeeradio, seine Anhänger würden den israelischen Soldaten das Leben in Ostjerusalem so lange zur Hölle machen, bis sie von dort so schmachvoll abzögen wie aus dem Libanon.

Mit dieser Äußerung stärkte Barghouti zugleich die Option, den Konflikt weiter militärisch eskalieren zu lassen. Seit dem Abzug aus dem Südlibanon im Mai, der als erster Sieg bewaffneter arabischer Kräfte über die vormals unschlagbar scheinende israelische Armee überschwänglich begrüßt wurde, fordern militante Palästinenser ein Ende der »demütigenden Verhandlungen« und den Beginn eines Befreiungskrieges gegen Israel.

Ein Vorhaben, das seitdem von gemäßigten palästinensischen Intellektuellen als selbstmörderisch kritisiert wird: Die Situation in Palästina sei mit der im Südlibanon nicht vergleichbar und deshalb mit militärischen Mitteln nicht zu verbessern; vielmehr müsse jede Maßnahme gegen Israel so ausgerichtet sein, dass sie eine künftige friedliche Koexistenz zweier Staaten nicht unmöglich mache. In diesem Sinn wies vorige Woche der Publizist Abd al-Jawwad darauf hin, dass weitere Attacken auf israelische Stellungen und Siedlungen »nur zu einem Desaster führen können«, und erinnerte an das militärische Fiasko von 1948, das zu einer Totalniederlage und in der Folge zu einer palästinensischen Massenflucht geführt habe.

Doch in den Palästinensergebieten sind kritische Stimmen weniger gefragt denn je. Repräsentativen Umfragen der Bir Zeit Universität vom November zufolge unterstützen nämlich nicht nur 75 Prozent der Palästinenser eine Fortführung der »Al-Aqsa-Intifada«, sondern 80 Prozent votieren auch für militärische Anschläge gegen israelische Ziele, und 73 Prozent befürworten sogar Attacken auf Einrichtungen der USA in der Region. Auf der anderen Seite erklärte nur ein Drittel der Befragten, Palästinenser könnten, selbst nach Ausrufung eines eigenen Staates, friedlich mit dem Staat Israel koexistieren. Zudem verlangen 93 Prozent angesichts der jüngsten Entwicklung die Bildung einer »Regierung der nationalen Einheit« unter Einschluss aller Parteien, eine Forderung, die zugleich die wachsende Beliebtheit der islamistischen Hamas ausdrückt.

Die gewünschte nationale Einigung scheint auf der Straße längst Realität geworden zu sein: Seite an Seite kämpfen dort die vormals verfeindeten Tanzim- und Hamas-Milizionäre. Diese Fraternisierung war nur möglich durch eine gezielte Verbindung von Militanz und »Islamisierung« seitens der palästinensischen Führung, deren Konturen sich schon seit längerem abzeichneten - schließlich scheiterten die Verhandlungen in Camp David an der Frage der Souveränität über die heiligen Stätten des Islam in Ostjerusalem. Arafats damaliges »Nein« brachte ihm in den Straßen Gazas den Ruf eines neuen Salahedins ein, seine kategorische Weigerung, dem israelischen Angebot zuzustimmen, verschaffte ihm vor allem bei den Religiösen breite Zustimmung.

Die massenwirksame Mobilisierung religiöser Affekte birgt allerdings auch Gefahren: Christliche Palästinenser fühlen sich von diesem islamisch aufgeladenen Nationalismus ausgeschlossen, wenn nicht sogar bedroht. Während der Camp-David-Verhandlungen befürworteten in Umfragen viele christliche Bewohner Ostjerusalems eine Beibehaltung der israelischen Verwaltung über den Ostteil der Stadt, und seit längerem ist das Verhältnis zwischen palästinensischen Muslimen und Christen getrübt.

Schwerwiegender scheint eine drohende Entfremdung von klassischen Verbündeten der Palästinenser wie etwa dem Vatikan zu sein, der sich noch immer als Hüter christlicher Stätten im »Heiligen Land« versteht. Der Dauerbeschuss der jüdischen Siedlung Gilo aus dem palästinensischen Ort Beit Jalla soll, so Isabel Kershner in der Zeitschrift Jerusalem Report, dieses Problem nun lösen. Die palästinensischen Schützen hofften nämlich auf heftige israelische Vergeltungsschläge gegen die Stadt und das benachbarte Bethlehem. In beiden Orten wohnen bedeutende christliche Minderheiten, und man könnte also »den Zorn der christlichen Welt auf Israel zu lenken«.

Populär wie seit langem nicht scheint jedenfalls der Versuch, mittels eines eigenen »Mini-Unabhängigkeitskrieges« (Jerusalem Post) - nach dem Vorbild antikolonialer Befreiungskämpfe - einen palästinensischen Staat aus Blut und Eisen zu schmieden, anstatt ihn am Verhandlungstisch unter US-Vermittlung schmachvoll »geschenkt« zu bekommen. Die dazugehörige Strategie, die Libanisierung der neuen Intifada, scheint politisch, aber auch militärisch keineswegs erfolglos zu sein. Längst nämlich reagiert die israelische Armee so, als sei ein Staat »Palästina« schon Realität. Sie greift zu Methoden, die nicht mehr - wie zu Zeiten der »alten« Intifada - an inländische Aufstandsbekämpfung erinnern, sondern an zuvor gegen die Hizbollah im Südlibanon angewendete Aktionen, wie die gezielte Liquidierung des Tanzim-Miliz-Führers Hussein Abejad aus einem Hubschrauber oder der Granatbeschuss gegnerischer Gebäude.

Auch die Diskussion um ein Wirtschaftsembargo gegen palästinensische Städte weist in diese Richtung und demonstriert zugleich die Hilflosigkeit israelischer Politik. Nicht mehr eine unschlagbare Armee versetze da den Gegner in Angst und Schrecken, spottete deshalb Israel Harel in der Ha'aretz, sondern eine konzeptlose Truppe reagiere halbherzig auf gegnerische Aktionen: »Die IDF (Israeli Defence Forces) ist an dem Punkt angelangt, an dem ein paar Bewaffnete unter Barghoutis Kommando - Bewaffnete, die der Hizbollah nicht das Wasser reichen können - die IDF auf Trab halten und nicht umgekehrt.«

So scheint die Taktik der neuen Intifada aufzugehen. Mit einer Mischung aus Demonstrationen - friedlichen wie auch militanten - und dem Guerillakrieg entlehnten Aktionen sollen die israelischen Soldaten und Sicherheitskräfte moralisch und militärisch zermürbt werden, damit die Forderung nach einem Abbzug in Israel lauter wird.

Dank dieser Erfolge konnte sich Barghouti letzte Woche am »12. palästinensischen Unabhängigkeitstag« die Unterstützung prominenter Persönlichkeiten aus dem akademischen und kulturellen Leben Palästinas für eine Resolution sichern, in der der Oslo-Prozess für gescheitert und die Fortführung der Intifada bis zur »Befreiung« zur nationalen Pflicht erklärt wurde. Mit »Gewehren statt Worten« solle Jerusalem in einem »heiligen Krieg« befreit werden, hieß es weiter; anders als die wenigen Mahnungen zur Mäßigung wurde dieser Aufruf zur Hauptsendezeit in den palästinensischen Medien verbreitet.

Auch Arafat hatte zuvor von einer - notfalls gewaltsamen - Befreiung der heiligen Stätten des Islam gesprochen, zugleich aber weitere Verhandlungsbereitschaft signalisiert und zum Schutz palästinensischer Zivilisten nach UN-Blauhelmen gerufen. Im Unterschied zu den Vertretern einer reinen Verhandlungslösung wie Abu Mazen oder Abu Ala scheint der Präsident sich weiter alle Optionen offen zu halten.

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