Litauen wartet auf den EU-Beitritt

Frieren für die Nato

Mit neuer Regierung und kriselnder Wirtschaft hofft Litauen auf die baldige Aufnahme in EU und Nato.

Der Sog der EU zeigt auch in ehemaligen Sowjetrepubliken Wirkung. Noch vorm Beginn ihrer Amtszeit als EU-Ratspräsidentin am 1. Januar besuchte die schwedische Außenministerin Anna Lindh letzte Woche das Baltikum. Und verbreitete Hoffnung: Einige Kandidatenländer könnten vielleicht früher als im letzten Kommissionsreport angekündigt der EU beitreten, sagte Lindh. Der Kandidat, den Schweden dabei im Auge hat, ist Estland - der Newcomer in der ersten Runde der Aufnahmekandidaten bringt die besten Wirtschaftsdaten mit. Der litauische Präsident Valdas Adamkus hingegen macht sich keine Illusionen: »Wir erwarten keine spezielle Betreuung von Schweden.«

Denn Litauen steckt in einer tiefen ökonomischen Krise. Die offizielle Arbeitslosenquote liegt bei zwölf Prozent, das Durchschnittseinkommen bei umgerechnet 400 Mark im Monat, während die Lebensmittelpreise teilweise fast doppelt so hoch wie beim südwestlichen Nachbarn Polen sind. Und das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf beträgt lediglich 30 Prozent des EU-Durchschnitts.

Dabei hatte die litauische Regierung nach monetär-liberaler Auffassung alles richtig gemacht. Die Währung wurde fest an den Dollar gebunden und ist frei konvertierbar, der Privatsektor erwirtschaftet 75 Prozent des BIP - mehr als in mancher westlichen Marktwirtschaft. Die Stiftung Index of economic freedom zeichnete Litauen erst Anfang des Monats als Aufsteiger des Jahres aus. Zwar senkte die Dollarbindung die Inflation von 13 Prozent 1996 auf 0,3 Prozent 1999, doch brach der Export völlig ein.

1998 hatte die EU die GUS als Hauptabsatzmarkt abgelöst, weil der Export Richtung Osten durch die Russland-Krise ins Stocken geraten war. Die baltischen Staaten traf diese Krise mit voller Wucht: In der sowjetischen Arbeitsteilung waren sie noch für die Zwischen- und Endproduktion von eingeführten Rohstoffen und Halbfertigwaren zuständig gewesen, die verarbeitet und dann in die Herkunftsländer zurückgeschickt wurden. Doch durch die Dollar-Bindung wurden litauische Waren für Russland schlicht zu teuer. Beim Absatz von Textil- und Elektronikprodukten in Westeuropa und den USA wiederum muss Litauen mit Südamerika und Asien konkurrieren, die billiger sind.

Ein schneller EU-Beitritt wäre die aussichtsreichste Perspektive für das litauische Kapital, doch scheint Vilnius beim Run auf den »gemeinsamen Markt« langsam abgehängt zu werden. Wegen ihrer Wirtschaftsstruktur stehen die drei baltischen Länder in scharfer Konkurrenz miteinander. Estland führt bereits seit 1998 Beitrittsverhandlungen. Inzwischen verhandeln Brüssel und Tallinn bereits über Fragen wie den freien Personenverkehr. Litauen und Lettland wurden dagegen erst 1999 in den Kreis der EU-Kandidaten aufgenommen.

Litauens Establishment schließt jede Alternative zum Beitritt aus. Nicht nur die politische Rechte trat seit Michail Gorbatschows Amtsantritt für die Sezession von der UdSSR- und die Annäherung an den Westen - ein. Im Dezember 1990 sagte sich die litauische KP von der KPdSU los. 1991 wurde die Souveränität Litauens, Estlands und Lettlands u.a. von Deutschland anerkannt.

Die Regierungen wechselten seitdem zwischen den aus der Unabhängigkeitsbewegung hervorgegangenen Rechten und der postkommunistischen Linken. Marktwirtschaft, Beitritt zu Nato und EU waren und sind erklärtes Ziel aller Parteien. Sozial- und Christdemokraten wollen dem Markt etwas mehr staatliche Zügel anlegen, die Parteien der rechtsbürgerlichen Mitte argumentieren neoliberal. Die rechte Vaterlandsunion von Vytautas Landsbergis und die Christdemokraten sind national-katholisch, die Sozialdemokraten säkular.

Alle Parteien haben ihren charismatischen Führer. Arvydas Juozaitis, Philosoph und Chefredakteur der Kulturzeitschrift Naujoji Romuva, meint, die tief verwurzelte katholische Ideologie bilde den Nährboden für den Wunsch nach einem charismatischen Heilsbringer auch in säkularer Form. Die litauische politische Kultur sei von potenziell antidemokratischen Tendenzen geprägt, die Kritik generell als Angriff auf Nation und System auffassten.

Die Wahl des Präsidenten 1998 bestätigte diese Analyse. Der völlig unbekannte Valdas Adamkus kam als Exil-Litauer aus den USA, trat für die rechte Vaterlandsunion an und gewann. Die Wähler hätten in ihm einen »weißen Ritter« gesehen, der aus Übersee komme, um Litauen zu retten, so Juozaitis.

Der »weiße Ritter« Adamkus hatte seine Finger auch bei der letzten Regierungsbildung im Spiel. Am 8. Oktober erlitten die bis dahin regierenden Konservativen eine empfindliche Wahlschlappe. Sie hatten angekündigt, die Schulen über den Winter schließen zu wollen, um die eingesparten Heizkosten für die Finanzierung des geplanten Nato-Beitritts zu verwenden. Brazauskas, dem gewendeten Kommunisten, gelang mit seiner sozialdemokratischen Koalition das Comeback; er führt im neuen Sejm, dem litauischen Parlament in Vilnius, die größte Fraktion. Doch Adamkus beauftragte die Parteien der Mitte mit der Regierungsbildung und setzte mit Rolandas Paksas seinen Wunschkandidaten als Regierungschef der neu gebildeten Koalition durch.

Adamkus hofft, Litauen mit dieser Regierung schneller in die EU zu bringen. Die Zustimmung zu diesem Projekt sinkt langsam, aber sicher und liegt Umfragen zufolge derzeit bei etwa fünfzig Prozent. Weiter dafür sind junge Stadtbewohner mit höherer Ausbildung und gutem Einkommen, während der älteren Landbevölkerung ihre Überflüssigkeit in der EU-Arbeitsteilung bewusst wird.

Schneller soll es auch mit der Nato gehen. Partnership for peace, eine »Charta der Partnerschaft« mit den USA, ein polnisch-litauisches Kontingent bei Friedensmissionen sind erste Schritte. Doch selbst der deutsche Kanzler Gerhard Schröder hat bisher noch Skrupel, eine ehemalige Sowjetrepublik in die Nato aufzunehmen.