Wirtschaftsgutachten der »Fünf Weisen«

Teure Schiedsrichter

Was die Wirtschaftsweisen dem Kanzler empfehlen: Weniger Arbeitslosengeld, knappe Sozialhilfe und ein dereguliertes Tarifsystem.

Die rot-grüne Koalition kann zufrieden auf ihr Werk zurückblicken. Der deutliche Rückgang der Arbeitslosigkeit und die Verbesserung bei den Ausbildungsplätzen sind das politische Pfund, mit dem man Wähler und Wählerinnen beeindrucken kann.

Also konnte sich Kanzler Gerhard Schröder auch recht optimistisch geben, als ihm die fünf Wirtschaftsweisen vergangene Woche in Berlin das Jahresgutachten 2000/2001 des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung übergaben. Doch das hoch bezahlte Team von Schiedsrichtern in Sachen Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Finanzpolitik wollte von kritischen Zensuren nicht absehen.

In ihrem Bericht »Chancen auf einen höheren Wachstumspfad« wird der Regierung eine gerade noch ausreichende Leistung attestiert: »Trotz der wirtschaftlichen Aufwärtsentwicklung besteht kein Grund zur Selbstzufriedenheit.« Das Tempo des konjunkturellen Aufschwungs sei, auch im weltwirtschaftlichen Vergleich, unterdurchschnittlich. Und: »Die oft beschworene Zukunftsfähigkeit Deutschlands ist nicht dadurch gesichert, dass die Wirtschaft gegenwärtig Exporterfolge vermeldet, die Investitionen steigen, die Produktion zunimmt und die Arbeitslosenquote sinkt.«

Der entscheidende Kritikpunkt: Der Beschäftigungsaufbau im Gefolge des derzeitigen Konjunkturzyklus sei enttäuschend. »Die Anzahl der Erwerbstätigen stieg von Ende 1999 bis 2000 bereits um 572 000 Personen beziehungsweise 1,5 Prozent.« Diese Zahlen überzeichneten allerdings die Verbesserung der Lage, da darin eine starke Zunahme der geringfügigen Beschäftigung enthalten ist, die seit der Einführung der Sozialversicherungspflicht in der Erwerbstätigenstatistik besser erfasst wird. Die Zahl der registrierten Arbeitslosen ging in deutlich geringerem Maße, nämlich um 261 000 zurück. Die Beschäftigung wird nach Meinung der Experten auch im Jahre 2001 zunehmen.

Während sich der Rat zu Zeiten der Kohl-Regierung an der Niedrigrechnerei in Sachen Arbeitslosigkeit beteiligte, wird jetzt die rot-grüne Koalition mit den Fakten traktiert. Die Anzahl der offenen und verdeckten Arbeitslosen werde Ende des Jahres 2001 immer noch 5,18 Millionen betragen. Bei der Verringerung der Arbeitslosigkeit habe die Wirtschaftspolitik zudem Rückenwind durch die demographische Entwicklung. Schlussfolgerung: Die Koalition müsse entschieden mehr tun, damit das deutsche Kapital im internationalen Wettlauf die Konkurrenten deutlicher abhängen könne.

Zudem müsse der Arbeitsmarkt radikaler dereguliert werden. Der Rat fordert vor allem im Hinblick auf die Arbeitsmarktpolitik ein offensiveres Vorgehen. »Neue Regelungen der Arbeitsmarktverfassung drohen auf dem Weg zu mehr Beschäftigung zu bremsen, anstatt diesen Weg zu ebnen.«

Die Bundesanstalt für Arbeit wird im kommenden Jahr 45,3 Milliarden Mark für Arbeitslosengeld und 44,1 Milliarden für aktive Arbeitsmarktpolitik ausgeben. Dass die Regierung den Etat der Nürnberger Behörde herunterfährt, wird vom Rat als Schritt in die richtige Richtung bewertet. Ein offensiveres Vorgehen würde erreicht, wenn das Arbeitslosengeld noch stärker abgesenkt, die Arbeitsmarktmittel für subventionierte Beschäftigung völlig eingespart und endlich Arbeitsrecht und Tarifsystem konsequent dereguliert würden. »Das Ziel einer ausgeprägteren Lohndifferenzierung kann nur dann erreicht werden, wenn die den Anspruchslohn im unteren Lohnsegment determinierenden Faktoren Sozialhilfe, Arbeitslosenhilfe und Arbeitslosengeld ebenfalls auf den Prüfstand gestellt werden.«

Schröder rühmt sich zu Unrecht einer politisch herbeigeführten Verringerung der Arbeitslosigkeit. Es ist neben der Entlastung des Arbeitsmarktes durch demographische Trends vor allem die Konjunktur der Exportwirtschaft, die für eine Verbesserung der Beschäftigungsbilanz sorgt. Das konjunkturelle Hoch verzieht sich aber bereits wieder, weil sich eine Konjunkturabschwächung in den USA und damit der Weltwirtschaft abzeichnet und gleichzeitig eine noch stärkere Abwertung des Euro mit den entsprechenden Effekten der Stärkung der Konkurrenzposition des europäischen Kapitals nicht fortführbar ist.

Dass die wirtschaftliche Erholung und die Entspannung auf dem Arbeitsmarkt auf einem sehr unsicheren Fundament steht, räumen auch die Sachverständigen ein: Das leichte Abfallen der Wachstumsrate im kommenden Jahr könnte unversehens in einen freien Fall übergehen. »Risiken birgt schließlich die weitere Entwicklung in den Vereinigten Staaten. Sollte die Landung der amerikanischen Wirtschaft nach dem langen und kräftigen Aufschwung härter sein als erwartet, könnte dies eine sich selbst verstärkende Abwärtsbewegung auslösen, die sich über sinkende Importe dämpfend auf die Weltkonjunktur und die Entwicklung der deutschen Wirtschaft auswirken würde.« Die kräftige Konjunktur in den USA basiert weder auf einer Verbesserung der Konkurrenzfähigkeit des US-Kapitals, noch ist sie das Ergebnis eines plötzlichen Übergangs zu einer ðnew economyÐ, sondern sie hat viel mit dem Konsumboom und einer maßlosen Verschuldung von privaten Haushalten und Unternehmen zu tun.

Folgte die rotgrüne Regierung den Vorschlägen des Sachverständigenrates, also Absenkung der Sozialeinkommen, konsequentere Lohnzurückhaltung und Deregulierung des Arbeitsmarktes, würde deshalb keineswegs ein Wirtschaftsboom wie in den USA erreicht werden.Es würde lediglich die alte Malaise der BRD-Ökonomie wieder in Erscheinung treten. Bleibt ein beträchtlicher Teil des Arbeitskräftepotenzials ungenutzt, werden die öffentlichen Haushalte stärker belastet. Die umlagenfinanzierten Systeme der sozialen Sicherung gerieten erneut in Finanzierungsprobleme. Ein nachhaltiger Ausweg könnte nur in Richtung einer deutlichen Korrektur der Verteilungsverhältnisse zugunsten der Arbeits- und Sozialeinkommen einerseits und der öffentlichen Finanzen andererseits erreicht werden.

Doch an diesem Punkt tritt die neoliberale Grundhaltung des Rates offen zutage. Laut Gesetz soll das Gremium die gesamtwirtschaftliche Entwicklung unter den Gesichtspunkten Stabilität des Preisniveaus, hoher Beschäftigungsstand, außenwirtschaftliches Gleichgewicht, stetiges und angemessenes Wirtschaftswachstum untersuchen und dabei auch die Bildung und Verteilung von Einkommen und Vermögen berücksichtigen.

Bis 1998 hat sich der Rat stets damit herausgeredet, zur Verteilungssituation könne er nichts sagen, weil es keine Daten gäbe. Obwohl sich daran nichts geändert hat, ist das Urteil jetzt eindeutig: »Kleine Änderungen einer gesamtwirtschaftlich errechneten Arbeitseinkommensquote« böten keine gute Grundlage, um sich über Verteilungsgerechtigkeit »kompetent zu äußern«. Zahlreiche private Haushalte am Boden der Einkommenspyramide seien innerhalb weniger Jahre aufgestiegen und hätten ihre materielle Situation verbessert. Das Schlussresümee: »Der Sachverständigenrat sieht in diesen Befunden kein Indiz für eine Erosion des Sozialen in unserer Marktwirtschaft.« Verteilungsgegensätze gehören also zur sozialen Marktwirtschaft wie das Amen zur Kirche.