Sebnitz und die Folgen

»Da muss doch was ...«

Die Medienkritik im Fall Sebnitz dient der Rehabilitation ausländerfeindlicher Ressentiments. In der Sächsischen Schweiz gehören Rassismus und Geschäftssinn zum guten deutschen Ton.

Unterm Ortsschild von Sebnitz ist erst vor kurzem ein Hinweis angebracht worden: »Tollwut! Gefährdeter Bezirk«. Sebnitz liegt fünfzig Kilometer östlich von Dresden in der Sächsischen Schweiz, unmittelbar an der tschechischen Grenze. Die Wolken hängen tief hier im Dezember und legen sich wie Watte über die Berge. In dem engen Tal werden bunte Fachwerkhäuser mit Schieferdächern sichtbar, eine Kunststofffabrik, ein Getränkemarkt mit Drive-in und ein Reno-Schuhzentrum. Sebnitz ist eine Kleinstadt wie jede andere.

Nur auf dem frisch restaurierten Marktplatz machen Fotografen Fotos von Polizisten, und ein halbes Dutzend Fernsehteams verfolgt die Bewohner beim Einkaufen. Ein alter Mann mit Schlapphut erklärt den Journalisten den Weg: »Sie fahren gemäß der Linienführung und dann kommen Sie zum Dr.-Petzold-Bad. Das ist dieser berühmte Ort.«

Seit fast zwei Wochen ist so einiges berühmt in Sebnitz. Die lindgrün getünchte Center-Apotheke etwa, in der die Familie Abdulla lebt. Der »kleine Joseph«, Sohn eines Irakers und einer Deutschen, der vor drei Jahren im »Spaßbad« unter noch ungeklärten Umständen starb, seine Mutter, Renate Kantelberg-Abdulla, die jahrelang auf eigene Faust ermittelte, und Mike Ruckh, der Bürgermeister von der CDU, der sich seine Stadt nicht kaputt machen lassen will.

Vor knapp zwei Wochen nahm die Polizei drei Tatverdächtige fest. Zeugen versicherten, sie hätten beobachtet, wie der sechsjährige Joseph mit einer Flüssigkeit betäubt und zum Becken geschleppt wurde. Dort seien Nazis auf ihn gesprungen, bis er tot im Wasser trieb. 300 Menschen waren an jenem Junitag vor drei Jahren im Dr.-Petzold-Bad, und keiner wollte etwas gesehen haben.

Eine Stadt schaut zu

Ausgerechnet Bild titelte mit der Schlagzeile: »Neonazis ertränken Kind. Und eine ganze Stadt schaut zu.« Sebnitz wurde zum Symbol für Feigheit und Fremdenfeindschaft. Seitdem ist alles anders. Journalisten kamen, und mit ihnen kam die Wut, die Wut Westdeutschlands und der Medien. Volker Schlöndorf war da, um sich die Rechte an der Geschichte zu sichern, und Familie Kantelberg-Abdulla fuhr nach Berlin zum Bundeskanzler. »Tja«, sagte ein Bild-Reporter in der Zeit, »so ist das bei vier Millionen Auflage.«

Doch dann kam die Wende. Die Zeugen wurden als unglaubwürdig eingestuft, und die Verdächtigen wurden aus der Haft entlassen. Zeit für einen Auftritt des sächsischen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf. Er wollte nun nicht mehr vom möglichen Mord an dem Jungen sprechen, sondern von den Mördern in den Medien: Sebnitz sei »öffentlich hingerichtet« worden, sagte er, und sein Justizminister Manfred Kolbe sprach von einer »Exekution«. Der Mitteldeutsche Rundfunk entschuldigte sich bei den 10 000 Sebnitzern, und die blamierten Medien mahnten zur Bedachtsamkeit.

Das Dr.-Petzold-Bad ist geschlossen an diesem trüben Novembertag. Gegenüber wohnt Karin Frenzel. Vor ein paar Tagen war ein Kamerateam von Sat.1 bei ihr. Sie sollte die Rollläden hoch- und runterziehen. Später kommentierte ein Reporter das mit den Worten: »Sebnitzer schauen weg.« - »Dabei war ich an dem Tag gar nicht zu Hause, und das habe ich denen ...«, sagt Karin Frenzel und bricht mitten im Satz ab. Sie spricht viele Sätze nicht zu Ende, vielleicht weil sie Angst hat, zu viel zu sagen, oder weil sie nicht weiter weiß. »Dass das so krass gekommen ...«, sagt sie und schaut zum Fernseher hinüber, der die ganze Zeit läuft. »Ich hoffe, das stört Sie nicht«, sagt sie, »ich bin hier nämlich noch am Arbeiten.« Dann streicht sie mit der Hand über eine Decke, die auf dem Tisch liegt. Gleich gibt es Mittagessen.

Karin Frenzel ist sicher, dass etwas verschwiegen wird. Warum sonst hat die Stadt »der Frau Kantelberg« 60 000 Mark Entschädigung gezahlt? »Bloß weil der Bademeister seine Aufsichtspflicht verletzt hat?« fragt Karin Frenzel. »Da muss doch was ...« Sie schaut wieder zum Fernseher und sagt schließlich: »Das ist das, was die Bürger aufräumt.« Von der Bedrohung der Familie, vom »Apothekerkrieg« und von den Neonazis, die es hier geben soll, will sie nichts wissen. Das seien alles »Möchtegerne«, die von der Sonderschule kommen, oder Arbeitslose, die »kleene Krawalle« machen. »Wenn wir wirklich so viele Neonazis hätten, dann wären die Häuser voller Schmierereien.«

Karin Frenzel sagt, was viele Sebnitzer den Reportern in diesen Tagen immer wieder erzählen. Dass alles halb so schlimm sei. Man brauche sich doch nur einmal im Ort umzuschauen. Erst vor ein paar Monaten habe der Bürgermeister den Marktplatz eingeweiht und eine Rede gehalten und gesagt, »dass es bei uns friedlich ist und nichts ...«

»Die Frau Kantelberg« sei immer freundlich gewesen und »hatte für jeden ein Wort übrig«, sagt Karin Frenzel. Im Grunde kann sie die Mutter des Jungen verstehen, aber den, der die falschen Aussagen gemacht hat, »den Kerl müssen sie richtig rannehmen«. Sie habe gleich »so eine Ahnung gehabt«. »Solche fühlen sich jetzt groß«, sagt Frau Frenzel, »dabei kommt der aus einer ganz verrüttelten Familie, das sind solche, die wir in Sebnitz ...«. Der Satz ist zu Ende und das Essen ist fertig.

Eine Stadt wird hingerichtet

Das Blatt hat sich gewendet, gegen die Familie Abdulla, die inzwischen nach Sebnitz zurückgekehrt ist, und gegen die Medien. Die bis vor einer Woche inhaftierten Jugendlichen haben Josephs Mutter wegen Anstiftung zu falscher Verdächtigung angezeigt. Die Sebnitzer sind wütend, und der Bürgermeister, der auch im Vorstand des Landestourismusverbandes Sachsen sitzt, sagt, die Stadt habe materiellen und immateriellen Schaden erlitten. Der CDU-Politiker fürchtet, dass die Touristen - angeblich die einzige Hoffnung der strukturschwachen Region - wegbleiben.

Nicht weit vom Stadtbad betreibt Rainer Böhme ein kleines Reisebüro. Böhme ist einer von 8 000 Menschen, die in der Sächsischen Schweiz vom Tourismus leben. Auf dem Tisch liegt ein Kalender für das Jahr 2000. »Geliebte Kinder sind glückliche Seelen - geschlagene Kinder sind zerbrochene Seelen«, steht auf dem Deckblatt. Und: »Nicht wegschauen, wenn andere hinlangen.«

Er habe viel zu tun, sagt Böhme, die Wintersaison läuft. »Tschuldigung, aber das müssen Sie verstehen.« Dann verschränkt er die Arme und erzählt vom »Fall Joseph«. Als ehemaliger Kriminologe ist er der Ansicht, dass die Mutter ein Recht darauf habe, den Tod ordentlich untersuchen zu lassen, solange keine eindeutigen Beweise vorliegen. 25 Jahre hat Böhme in Berlin bei der Kriminalpolizei gearbeitet, ehe er 1992 in seinen Heimatort Sebnitz zurückgekehrt ist, »nur um die Firma wieder aufzubauen. Ich wollte eigentlich nicht hier bleiben.«

Da er Mitglied der PDS sei, stehe für ihn die Frage im Vordergrund, wie man in dieser Gegend eine linke Kultur entwickeln kann. Zwar gibt es in Sebnitz eine Antifagruppe, in der sich auch Böhme engagiert, trotzdem seien die linken Kräfte »hier zu wenig und zu wenig zu spüren. Wissen Sie«, sagt Böhme, »ich arbeite zwölf Stunden am Tag und ich bin sehr viel mit mir und der Firma beschäftigt.« Das klingt wie eine Entschuldigung. Aber als Geschäftsmann müsse er die ganze Sache auch von einem unternehmerischen Standpunkt betrachten.

Eine Stadt macht Verluste

Wegen der schlimmen Zeitungsberichte rechnen nun viele mit Umsatzeinbußen. Der Tourismusverband Sächsische Schweiz hat sich mit einem Brief an Bundeskanzler Schröder gewandt, »massive Abbestellungen« lägen vor. Davon hat Rainer Böhme noch nichts bemerkt: »Bei uns hat keiner abgesagt.« Nur über seine Homepage hätten ihn einige Mails erreicht. Ein Mann aus Bielefeld etwa habe von einer »dumpf-zustimmenden, bewusst wegschauenden Bevölkerung« im Osten geschrieben. »Was den Menschen im Osten« fehle, so der Absender, sei »der Schliff preußischen Denkens«. Rainer Böhme hat alle diese Mails gesammelt, um sich einmal an das erinnern zu können, was in Sebnitz passiert ist. »Ich will keine Panikstimmung machen«, sagt er. Dann wendet er sich seinem Kollegen zu, der am Kopierer steht: »Dass die Stadt Schaden genommen hat, ist Quatsch. Der Bürgermeister hat doch erreicht, was er wollte: Er ist ins Fernsehen gekommen.«

Ins Fernsehen gekommen sind auch die Neonazis, die grölend vor der Center-Apotheke aufmarschierten und nach eigener Aussage »ein ganz normales Fußball-Lied« sangen: »Auf dem Rasen liegen Leichen, in den Rücken stecken Messer, mit der Aufschrift: Wir sind besser.« Biedenkopf legt die Hetzgesänge des rechten Mobs wiederum anders aus. Die Jugendlichen seien von »elektronischen Medien« bezahlt worden.

Das wäre gar nicht nötig, liegen in der Sächsischen Schweiz doch einige Hochburgen der NPD. Bei den letzten Kommunalwahlen kam die Partei auf 6,5 Prozent und zog in acht Gemeindeparlamente ein. In Sebnitz sitzt für sie der junge Arzt Johannes Müller im Stadtrat, der wie alle Politiker in den letzten Tagen einen Brief an die Bürger schrieb. Er beteuerte, dass seine Partei Mitgefühl habe mit der Familie, und forderte »ein Ende der Gleichsetzerei der NPD mit Gewalttätern«.

Eine Region wählt braun

Wie sehr die NPD in Ostsachsen verharmlost wird, zeigt sich auch am Beispiel der Stadt Königstein, zwanzig Kilometer westlich von Sebnitz gelegen, wo die Partei im letzten Sommer 11,8 Prozent der Stimmen erreichte. Als ihr Kandidat, der Fahrlehrer Uwe Leichsenring, das zweitbeste Ergebnis erzielte, konnte der Bürgermeister »keinen Rechtsruck« feststellen, und ein SPD-Stadtrat versicherte der taz, dass »Leichsenring ja auch Vorschläge für die Stadt machen« könne, »die besser sind als unsere«. Leichsenring unterhält enge Kontakte zu den Skinheads Sächsische Schweiz (SSS), die vom sächsischen Verfassungsschutz als »militär-nationalistische Vereinigung« eingestuft werden.

Im Sommer wurden bei einer Razzia über zwei Kilo Sprengstoff sowie Unterlagen über paramilitärische Übungen sichergestellt. In ihrer Zeitschrift Parole behaupten die SSS, die Gegend südlich von Dresden stehe unter ihrer Kontrolle. Viele der rund hundert Mitglieder gehen ordentlichen Berufen nach, sind Erzieher und Bankangestellte, und ihre Eltern arbeiten beim Bundesgrenzschutz oder bei der Staatsanwaltschaft.

Eine Stadt wehrt sich

Am Sonntag wollten einige Sebnitzer ein Zeichen setzen gegen »Gewalt, Extremismus, Wegschauen«. Der Stadtrat aber sagte die Aktion ab, weil der Ort »ständig durch Mitglieder extremer Gruppierungen beobachtet und analysiert wird«. Bürgermeister Ruck machte in der Süddeutschen Zeitung den »Medien-Gau« für die Absage verantwortlich.

Einer, der die Lichterkette organisiert hatte, ist Heinz Senenko von der örtlichen Antifagruppe »Spurensucher« - ein alter Mann, der eine braune Baseballmütze und eine karierte Hose trägt. »Wir haben im Bund der Antifaschisten unsere rechtliche Sicherheit«, sagt er, »und wir versuchen mit ganz bescheidenen Mitteln, in das Tagesgeschehen einzugreifen.« Senenko ist ein gewissenhafter Mensch. Er hat alles gesammelt, was es über Sebnitz gibt: Zeitungsartikel, Briefe, Anträge. Sogar Telefongespräche mit »Spurensuchern« hat er protokolliert. Es scheint, als versuche er die Wirklichkeit zu begreifen, indem er sie abheftet.

Die Unterlagen, die ihm Renate Kaltenberg im Sommer zukommen ließ, habe er genau geprüft. Auf die Tagesordnung eines Gruppentreffens hatte er den Fall schon einmal gesetzt, dann aber entschieden, ihn mangels ausreichender Beweise nicht zu veröffentlichen. In einem Brief an die Eltern bot er ihnen seine Hilfe an und wies darauf hin, »dass Sebnitz eine Stadt humanistisch-antifaschistischer Tradition bis heute geblieben ist«.

Die Sebnitzerinnen und Sebnitzer wehren sich derweil weiter gegen den Vorwurf der Kollektivschuld. Letzte Woche eröffnete der Landrat ein Spendenkonto, um die »regionale Wirtschaft zu unterstützen und den zu Unrecht vorverurteilten Sebnitzern die Hand der tätigen Hilfe zu reichen«. Denn erst wenn der gute Ruf von Sebnitz wieder hergestellt ist, kehren auch die Touristen zurück - zumindest die deutschen.