Nachruf auf den Fotografen Mario Giacomelli

Deine Augen

Zum Tod des Fotografen Mario Giacomelli.

Es ist schwierig, in diese Augen zu blicken. Sie fordern »The Act of Seeing With One's Own Eyes«. Ich erinnere mich an Stan Brakhages Film, der so heißt. Stumm, wie die meisten Filme von Brakhage, und keine Ablenkung erlaubend, betrachtet er tote, aufgeschwemmte, fleckige Körper, die während einer Autopsie aufgesägt, ausgekernt, ausgespült werden.

Es ist schwierig, die 32 Minuten dieses Films zu ertragen, doch man erinnert sich seiner in der ruhigen Gewissheit, dass es wenigstens einen Kameramann auf der Welt gibt, dem es gestattet sein sollte, tote Menschen zu filmen. Brakhage weicht niemals zurück, aber er hält sich selbst bei den Nahaufnahmen in einer zärtlichen Distanz, er gibt Raum; kein größerer Unterschied als der zwischen seinem beharrlichen, traurigen Blicken und einem medizinischen Lehrfilm.

Mario Giacomelli hat in den fünfziger Jahren sterbenden Menschen in die Augen geblickt. Seiner bekanntesten Bildserie, die im Hospiz entstand, gab der Fotograf den Titel des letzten Gedichtzyklus von Cesare Pavese: »Verrà la morte e avrà i tuoi occhi«, »Kommen wird der Tod und deine Augen haben«. Pavese schrieb ihn kurz vor seinem Selbstmord 1950, die abschließenden sieben Verse des Titelgedichts lauten: »Per tutti la morte ha uno sguardo. / Verrà la morte e avrà i tuoi occhi. / Sarà come smettere un vizio, / come vedere nello specchio / riemergere un viso morto, / come ascoltare un labbro chiuso. / Scenderemo nel gorgo muti.« (In der Übertragung von Urs Oberlin: »Für alle hat der Tod einen Blick. / Kommen wird der Tod und deine Augen haben. / Wie das Ablegen eines Lasters wird es sein, / auch tauchte im Spiegel vor uns / ein totes Gesicht wieder auf, / als lauschten wir einer verschlossenen Lippe. / Stumm werden wir in den Abgrund steigen.«)

Mario Giacomelli tritt heran und wendet den Blick nicht ab, doch er besitzt den Takt, nicht entziffern zu wollen, er lauscht der »verschlossenen Lippe«. Ein Gesicht ist unlesbar wie ein Gedicht. Diese Einsicht scheidet die späten Gedichte Paveses von seiner »poesia-racconto« und die frühen Fotografien Giacomellis vom »neorealismo«. Sie scheidet die Kunst von der Mitteilung, die ohnehin in Zeitungen besser aufgehoben ist.

Wessen Augen hat also der Tod? Paveses Gedicht lässt keinen Zweifel: Es sind die Augen des Betrachters selbst. Von ihm wird dieses Äußerste verlangt, sich selbst in den Sterbenden wiederzuerkennen. Das bedeutet aber, im Sehen und Erkennen an die Grenzen von Sehen und Erkennen zu stoßen, denn der Andere muss fremd bleiben und diese letzte Grenze kann niemand überwinden, es sei denn in der Horizontalen, mit den Füßen voran. Nirgendwo sonst stehen sich das Wissen-Wollen und das Nicht-wissen-Können so schroff gegenüber. Die Gesichter sagen nichts, das aber sehr deutlich.

Während dieser Arbeit hat sich Giacomelli mit der Nacht vertraut gemacht, seine Augen haben sich akkommodiert, und es scheint, dass er sich vom Dunkel faszinieren lässt. Er kehrt immer wieder in es zurück. Und immer schwärzer wird sein Schwarz. »Das Weiß ist das Nichts«, sagt der Künstler, »das Schwarz sind die Narben.« Die Ende der Fünfziger entstandenen Bilder aus dem Abruzzendorf Scanno lassen die staubige, öde Landschaft zu Licht zerfallen. Davor aber, streng figürlich komponiert, wie Scherenschnitte, die Silhouetten der Bäuerinnen und Bauern. Härter noch als die Fotografien aus dem Hospiz, doch zugleich gestaltlos, unmenschlich.

Die menschlichen Landschaften weichen den Landschaften der Felder, Bäume, Häuser, meist bei Nacht aufgenommen. Sein Schwarz nimmt wie jenes, das Artaud an van Goghs »Krähen über dem Kornfeld« beschreibt, die »Farbe von Moschus, von üppiger Narde, von Trüffeln« an, als entstammte es »einem großen Souper«. In diesem opulenten Schwarz flirrt ein gespenstisches Licht. Man spürt die Nähe somnambuler Wesen, ohne sie jemals zu sehen; Katzen huschen vorbei. »La notte lava la mente«, »die Nacht reinigt den Geist«, heißt, nach Mario Luzi (»Il Purgatorio. La notte lava la mente«, 1990), eine Serie aus den Jahren 1994/95. Die blitzhaften Eindrücke des Rausches kommen ins Gedächtnis, eine Welt von wohltuender Entfremdung und Kälte bietet sich dar.

Kargheit kann etwas Barockes, Überströmendes besitzen. Obwohl aufs Äußerste abstrahiert, speisen sich Giacomellis Landschaftsbilder aus dieser barocken Fülle; das von den Rändern herandrängende Schwarz, das bleiche Grau der vom Mond beleuchteten Erde. Die silbrigen Spuren des Pflugs. Und, merkwürdig, das Ausdünnen der Pflanzen und Felder, das Zusammenschmelzen des Sichtbaren verarmt die Landschaft nicht nur, sondern verwandelt und bereichert sie zugleich. Häufig setzt der Fotograf Solarisationen ein, fast immer arbeitet er mit langen Belichtungszeiten. In dieser Laborarbeit muss das »Plutonische« wirken, das José Lezama-Lima im amerikanischen Barock erkennt, ein kaltes Feuer.

Giacomellis Blick ist der von weit oben hinab ins Tal - eine Serie ist vom Flugzeug aus aufgenommen -, die Einzelheiten verlieren sich, das abgeerntete Feld schwingt in langen Wellen aus, verdichtet bis zum Geometrischen und doch seltsam belebt. Die Ackerfurchen muten wie Handlinien an. Aber es gibt niemanden, der in ihnen lesen könnte; es sei denn ein Witzbold, der jemandes Hand packt, sie lange betrachtet und dann prophezeit: »Sie werden sterben.«

In »Ninna Nanna« ist Giacomelli Mitte der Achtziger noch einmal ins Hospiz zurückgekehrt. Die Fotografien besitzen die Kraft von »Verrà la morte ...«, doch nun komponiert er weniger streng. Es ist, als ob er gelassener geworden wäre. Er zeigt seltener Einzelne, dafür, dynamisch gefasst, Gruppen von alten Menschen. Auch hier kein plumpes Memento mori, kein Klappern mit der Sense, Bestandsaufnahme, ruhiges Blicken.

Und weniger Hoffnung, denn die Empörung hat er abgelegt; »wie das Ablegen eines Lasters wird es sein«. Das Gesicht einer Moribunden, die wächserne Haut spannt bereits der Totenkopf, lässt Giacomelli unscharf; scharf gestellt ist auf eine Uhr ohne Zeiger. Man bedenke, dass Allegorien keine Bilderrätsel sind, sie lassen sich nicht lösen.

Es gibt keine Wandler zwischen den Welten. Es gibt aber Künstler, die sich sehr weit vorgewagt haben an die Grenze und, indem sie sie abschritten, eine Kenntnis jenes Gebietes erworben haben, das die meisten zu Recht nicht betreten wollen. Zu diesen Grenzgängern zähle man Mario Giacomelli.

Der Fotograf ist am vorvergangenen Sonnabend in seinem Haus bei Ancona verstorben, in der Marche, die er sein Leben lang nicht verlassen hat.