Die Linke und die EU-Erweiterung

Die Chance ergreifen!

Der EU-Beitrittsprozess kann helfen, die Demokratisierung in der Türkei zu beschleunigen. Wenn die Linke diese Möglichkeit nicht nutzt, drohen wirtschaftlicher Liberalismus und politischer Autoritarismus.

Für Teile der türkischen Linken hat sich durch den europäischen Gipfel von Helsinki, mit dem die EU-Mitgliedschaft der Türkei auf die Agenda gesetzt wurde, nichts geändert. Seitdem werden Linke wie Engin Erkiner (Jungle World, 48/00) nicht müde, ihre eingeübten schematischen und vereinfachenden Analysen vorzutragen und damit ihre Hilflosigkeit zu demonstrieren. Anstatt zu reflektieren, was im beginnenden 21. Jahrhundert Imperialismus bedeutet, anstatt die Neuordnung des Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit durch die Umwandlung der Arbeitsorganisation zu analysieren und darauf basierend ein vorwärts weisendes politisches Projekt zu entwerfen, bevorzugen es diese links etikettierten Gläubigen, die heiligen Verse der Litanei zu rezitieren.

Da die meisten derer, die im Namen der Linken das Wort ergreifen, bar jedes autonomen und schöpferischen Analysevermögens sind, interviewen sie bei jeder Frage zunächst die Gegenseite, um daraus ihr eigenes Urteil ex negativo abzuleiten. So auch beim Thema EU. »Wenn die imperialistischen Kräfte die Türkei in der EU aufgehoben sehen wollen, sind wir dagegen«, lautet das Credo, das man in diesen Kreisen mit einem analytischen Befund verwechselt.

Während ein Teil der türkischen Linken eine EU-Mitgliedschaft als »Kapitulation gegenüber dem Imperialismus« interpretiert und die Ehre des Dorfes zu verteidigen trachtet, glaubt ein großer Teil der Gesellschaft, dass die EU die Türkei zu politischen und ökonomischen Konzessionen zwingen werde. Einer weit verbreiteten Auffassung zufolge ist der Schlüssel zur Lösung der dringendsten Pro-bleme - von der autoritären Staatsstruktur und den antidemokratischen Gesetzen und Praktiken über den zum Rassismus neigenden Nationalismus bis hin zum Kurden-Konflikt und der Auseinandersetzung zwischen Laizismus und Islamismus - in Brüssel zu finden.

Dagegen muss man nachdrücklich betonen, dass sich tief greifende Veränderungen der türkischen Gesellschaft nicht mit dem Erwerb der Mitgliedschaft einstellen werden, sondern - wenn überhaupt - auf dem Weg dorthin. Falls der Beitrittsprozess nicht abgebrochen wird, werden die kommenden fünf bis zehn Jahre bestimmen, welchen Platz die Türkei in Europa einnehmen und wie diese Türkei geformt sein wird.

Damit die Türkei die politischen Beitrittskriterien erfüllt, reicht es nicht aus, dass sie einige Gesetze und Praktiken revidiert. Nötig ist eine Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Staat und Individuum. Und das ist nur durch innere Entwicklungen, durch eine stärkere Politisierung, Mobilisierung und Organisation der Gesellschaft erreichbar. Äußere Faktoren können hier nur eine sekundäre Rolle spielen.

Naiv ist es hingegen zu glauben, dass die EU eine offene Konfrontation mit dem in der Türkei herrschenden autoritär-nationalistischen Block eingehen und das Land zu politischen Reformen zwingen werde. Abgesehen von ein oder zwei Punkten wird dieser Druck ausbleiben. Schließlich gehört die Türkei nicht zu den Staaten, deren Aufnahme für Brüssel eine Conditio sine qua non darstellt. Die EU erwartet von den als Kandidaten akzeptierten Ländern, dass sie gewisse Anstrengungen unternehmen. Brüssel verfügt nicht oder nur in geringem Umfang über Instrumentarien, mit denen man diese Maßnahmen erzwingen könnte. In Bezug auf die Türkei existiert auch ein solcher Wille nicht.

Für die EU-Staaten wäre daher eine begrenzte Zusammenarbeit, die den jetzigen Rahmen Zollunion und Europäischer Rat nicht überschreitet, auch eine künftig denkbare Alternative. Zumal nicht wenige in der EU die türkische Mitgliedschaft als Verstoß gegen die »geistigen und kulturellen Grundlagen« der Union werten. Wenn sich die Türkei politischen Reformen verweigert, dürfte sich in der EU niemand finden, der sowohl mit Ankara als auch mit den europäischen Türkei-Gegnern eine Konfrontation einginge.

Um auf der politischen Ebene jedes Zugeständnis an die EU zu vermeiden, ist Ankara dazu bereit, auf ökonomischer Ebene alle erdenklichen Konzessionen zu machen. So ist man dabei, die Bestimmungen des Maastrichter Vertrages nahezu wörtlich umzusetzen oder zumindest diesen Anschein zu erwecken. Bei den politischen Beitrittskriterien hingegen ist nicht die geringste Regung zu verspüren. Wirtschaftsliberalismus plus politischer Autoritarismus lautet das Credo der Herrschenden.

Zugleich ist der herrschende autoritär-konservative Block auf eine politische und kulturelle Abschottung bedacht. Das geht einher mit der Beschwörung des Gespenstes einer Bedrohung von außen. Die schablonenhafte antiimperialistische Rhetorik ist die linke Widerspiegelung dieser paranoiden Verschwörungsszenarien.

Natürlich gibt es zwar auf internationaler Ebene Interessenkonflikte zwischen Staaten und Klassen und darin begründete Kämpfe um militärische und politische Hegemonie. Aber dies ist keine eindimensionale Begebenheit. So ist die - auch von Erkiner kolportierte - Behauptung, die EU wolle die Türkei »dauerhaft als Billiglohnland etablieren«, falsch und bestenfalls ein freihändiges Zitat aus trikontinentalistischen Handbüchern der sechziger Jahre.

Richtig ist das Gegenteil: Die Türkei wird sich dann zu einem Paradies für niedrige Löhne entwickeln, wenn sie außerhalb der EU bleibt. Deswegen ertönt das Wehgeschrei der Vertreter des nationalen Kapitals, dass der EU-Beitritt zum Verlust ihrer Konkurrenzfähigkeit führen werde. Diese Kreise orientieren sich nicht am europäischen, sondern am US-amerikanischen Modell eines völlig flexiblen Arbeitsmarktes und akzeptieren die EU allein als Binnenmarkt. Konsequenterweise leistet das nationale Kapital erbitterten Widerstand gegen sozialpolitische Angleichungen an die EU - wie etwa gegen den jüngst von der Regierung vorgestellten Gesetzentwurf zum Kündigungsschutz.

Auch die Privatisierungen, die Liberalisierung des Arbeitsmarktes und die verschärfte Ausbeutung resultieren nicht aus der EU-Kandidatur oder der Zollunion mit der EU, sondern vor allem aus der neoliberalen Politik der Özal-Ära. Eine Fortsetzung dieser Politik erscheint jenseits einer EU-Mitgliedschaft einfacher.

Die Linke hingegen könnte den Beitrittsprozess als Hebel dafür nutzen, die aktuellen, aber zu schwachen politisch-gesellschaftlichen Kämpfe gegen die autoritäre Staatsstruktur und für Demokratisierung, Achtung der Menschenrechte, Wahrung der sozialen Gerechtigkeit und Anerkennung der kulturellen Identitäten zum Erfolg zu verhelfen. Wenn dieser Kampf aber nicht von den Parteien, Gewerkschaften und Organisationen des Landes verfochten wird, droht am Ende des Beitrittsprozesses eine kapitalistische Monstrosität aus ökonomischem Liberalismus und politischem Autoritarismus. Die Türkei bliebe draußen, was auch für alle in der EU, die die Türkei am liebsten als ewige Kandidatin sehen möchten, eine komfortable Situation wäre.

Den Beitrittsprozess als Hebel zu benutzen bedeutet im Übrigen nicht, allen Maßgaben der EU - vor allem den wirtschaftspolitischen - zuzustimmen. Noch heute setzen die EU-Staaten nicht mehr als die Hälfte der Bestimmungen von Maastricht um. Während die europäischen Regierungen in anderen auf europäischer Ebene behandelten Fragen freier agieren können, werden sie in der Wirtschaftspolitik von sozialen Bewegungen und den Kräften der Arbeit in den jeweiligen Ländern dazu genötigt, gegen den neoliberalen Kurs der EU-Kommission zu opponieren.

Als Ergebnis lässt sich formulieren, dass der EU-Beitrittsprozess wichtiger als die Mitgliedschaft selbst ist. Die EU wird die Türkei weder unter Beibehalt ihres Status quo aufnehmen, noch sie zu politischen Reformen zwingen. Für die Linke bedeutet das, dass sie ihre tradierten Ängste und Komplexe gegenüber der EU abstreifen und ihren antiimperialistisch verbrämten Nationalismus überwinden muss. Zugleich muss sie versuchen, die sich durch den Beitrittsprozess eröffnenden historischen Chancen zu nutzen und sich an die Spitze einer zu kreierenden Bewegung für einen alternativen EU-Beitrittsprozess zu katapultieren.

Erst wenn die nationalistische und autoritäre Hegemonie gebrochen ist, erst wenn die Mängel an Demokratie und Menschenrechten beseitigt sind, kann der Sozialismus wieder auf die gesellschaftliche Agenda gesetzt werden. Sollte die Linke aber Gefangene ihrer Mythen bleiben, wird sie ihr weiteres Dasein als bedeutungslose Figur am Rande der politischen Arena fristen.

Der Verfasser lehrt Wirtschaftswissenschaften an der Sorbonne in Paris und an der Galatasaray Universität Istanbul. Er ist Mitherausgeber und Autor der Zeitschrift Birikim sowie regelmäßiger Kolumnist der Tageszeitung Radikal.