Enthüllungen über Massaker im Irak

Ein bisschen Terror

Ein ehemaliger irakischer Geheimdienstler plaudert über die Massaker des Hussein-Regimes.

Mit dem Näherrücken des zehnten Jahrestages des Golf-Krieges verschärfen sich auch die Auseinandersetzungen um die von der irakischen Regierung forcierte Aufhebung der internationalen Sanktionen gegen das Land. Seit dem 1. Dezember hat die irakische Regierung den begrenzt erlaubten Ölexport eingestellt, um weiteren Druck auf den UN-Sicherheitsrat auszuüben, die Sanktionen zu lockern.

Nicht ohne Erfolg: Den Gegnern der Sanktionen gilt das Embargo längst als »stiller Genozid« und eigentlicher Verursacher der gewalttätigen Herrschaftsverhältnisse im Land. UN-Generalsekretär Kofi Annan kündigte für Januar seinen Besuch in der irakischen Hauptstadt an, um die Modalitäten einer weiteren Lockerung des Embargos auszuhandeln. Zugleich gaben die UN bekannt, der Irak habe rund 4,7 Milliarden US-Dollar, die aus dem begrenzten legalen Ölverkauf für Medikamente und Nahrungsmittel stammen, nicht abgerufen.

Es hätte dieser Meldung kaum bedurft, um jene eines Besseren zu belehren, die allein das Embargo für die Misere der irakischen Bevölkerung verantwortlich machen. Anfang Dezember stellte der neue UN-Sonderberichterstatter für Menschenrechte im Irak, Andreas Mavrommatis, seinen Bericht der Vollversammlung vor. Binnen Wochenfrist folgten der Jahresbericht von Human Rights Watch, eine Verurteilung des Irak durch das Europa-Parlament sowie die Veröffentlichung neuen Beweismaterials durch einen ehemaligen irakischen Geheimdienstoffizier in Radio Free Iraq.

Allein schon die Enthüllungen des ehemaligen Geheimdienstlers Khalid al-Janabi sorgten zumindest in der britischen und amerikanischen Öffentlichkeit für Aufsehen. Janabi diente 20 Jahre in einer Spezialeinheit des irakischen Geheimdienstes Mukhabarat, bevor er 1999 aus Angst vor Strafmaßnahmen floh. Selbst die Eliten aus den irakischen Sicherheits- und Staatsdiensten sind vor Verfolgung nicht sicher. Denn mit dem Wissen über die Mechanismen der systematischen Unterdrückung wächst auch die Gefahr, Opfer von »Säuberungen« zu werden. Seinen Angaben zufolge wurde Janabi am 27. April 1998 von Saddams Sohn Qusay Hussein persönlich mit der Hinrichtung von Gefangenen im Bagdader Zentralgefängnis Abu Graib beauftragt. Binnen eines einzigen Tages wurden demnach 2 000 Insassen exekutiert, vorwiegend Gefangene, die auf ihren Prozess warteten, als Maßnahme gegen die Überfüllung des Gefängnisses.

Damit bestätigt Janabi die Berichte irakischer Oppositioneller, vor allem der Irakischen Kommunistischen Partei, die dem Regime in Bagdad seit langem vorwerfen, systematische »Säuberungen« in irakischen Gefängnissen durchzuführen (Jungle World, 52/98). Bislang galten diese Vorwürfe als interessegeleitete Informationen der Opposition, ebenso wie der Vorwurf, die irakischen Sicherheitskräfte setzten spezielle Teams zur »Ehrverletzung« und Vergewaltigung als Terrormaßnahme ein. Auch hierfür liegen nun dem UN-Sonderberichterstatter erstmals Beweise in Form von Videoaufzeichnungen vor.

Sollten sich die Vorwürfe Janabis bewahrheiten, so könnten sie tatsächliche Konsequenzen nach sich ziehen. Denn der Irak soll auch noch über 600 kuwaitische Gefangene als Geiseln festhalten. Zehn Jahre nach dem irakischen Einmarsch wird eine hohe Zahl kuwaitischer Staatsangehöriger noch vermisst. Neben diesen hat amnesty international die Namen von 16 000 weiteren »Verschwundenen« im Irak aufgelistet. Damit befindet sich der Irak einsam an der Spitze der Liste derjenigen Länder, die systematisches »Verschwindenlassen« praktizieren.

Als das Interview mit Janabi bekannt wurde, reagierte das britische Außenministerium prompt. Im Observer war zu lesen: »Niemand sollte die Bestialität des irakischen Regimes vergessen. Diejenigen, die jetzt von den Vereinten Nationen eine Aufhebung des Embargos fordern und sich dann vom Irak abkehren, laden Saddam Hussein ein, die irakischen Kurden im Norden und die Nachbarn Iraks erneut zu terrorisieren.« Grundsätzlich Neues allerdings haben weder Janabi noch die Berichte des UN-Sonderberichterstatters zu bieten. Lediglich mit bislang nicht bewiesenen Details wird dort beschrieben, was Opposition und Menschenrechtsgruppen seit Jahren wissen. Erwähnenswert sind diese Details deshalb, weil sie auf die besondere Qualität und Quantität irakischen Staatsterrors verweisen.

So wird, wer nach Grausamkeiten sucht, im Irak schnell fündig: Deserteure werden gebrandmarkt, Dieben werden Gliedmaßen amputiert, Familienangehörige Geflohener werden regelmäßig in Haft genommen, schwerste Folter und Vergewaltigungen sind bei Verhören normal. Über 100 000 Kurden wurden in den letzten Jahren im Rahmen der staatlichen »Arabisierungspolitik« alleine aus der Erdölstadt Kirkuk vertrieben. Mindestens 400 000 Bewohner flohen vor der systematischen Zerstörung der Sumpfgebiete des Südiraks, geschätzte 40 000 wurden in Lagern angesiedelt, wahrscheinlich ebenso viele ermordet. Erst vor wenigen Wochen wurden landesweit mehrere Hundert Frauen verhaftet und unter dem Vorwurf der Prostitution mit dem Schwert enthauptet. Der Tag des Massenmordes wurde von Staatschef Saddam Hussein zum »Tag der Ehre der irakischen Frau« erklärt.

Obwohl kaum gravierender als das seit Jahren von der Opposition gesammelte Material, scheinen die neuerlichen Vorwürfe doch mehr Gewicht zu haben. Denn damit wird die Menschrechtssituation im Irak mit der Diskussion um das Embargo verknüpft. Es dürfte kaum reine Koinzidenz sein, dass der von der US-amerikanischen Regierung gesponserte Sender Radio Free Iraq das Interview mit dem Überläufer Janabi gerade jetzt bringt. Mit dem Verweis auf die Menschenrechtssituation im Irak könnten die USA und Großbritannien nun versuchen, die Sanktionen neu zu definieren, die formal lediglich von der Erfüllung der Abrüstungsauflagen abhängig sind. Diese Argumentation zielt auf diejenigen europäischen Länder, die am eifrigsten an der Rehabilitation der Hussein-Regierung arbeiten und zugleich in anderen Regionen versuchen, mit dem Schlagwort der menschenrechtsorientierten Außenpolitik strategisch und militärisch hegemoniefähig zu werden.

Dieselbe Haltung, mit der im Falle Jugoslawiens Völkerrecht gebrochen wurde, wird nun im Falle des Irak gegen europäische Interessen gewendet. Dass sich dabei zum Teil sogar dieselben Protagonisten hervortun, mag wie eine Ironie am Rande erscheinen. So wurde die Entschließung des Europaparlaments Anfang Dezember, auf ein internationales Tribunal gegen die irakische Regierung hin zu wirken, maßgeblich von Daniel Cohn-Bendit und den Grünen im Europäischen Parlament initiiert.

Fast könnte es scheinen, als habe sich hier der ideologische Überbau der materiellen Politik bemächtigt. Nachhaltig beeindrucken dürfte der Vorstoß im Namen der Menschenrechte die am Irak interessierten europäischen Regierungen kaum. Wirksam war eine »menschenrechtsorientierte Außenpolitik« bislang nur, wo sie mit handfesten Interessen und der faktisch-militärischen Möglichkeit, diese auch durchzusetzen, einherging. Genau daran mangelt es der britisch-amerikanischen Anti-Irak-Koalition.

In das erwünschte Dilemma geraten daher bestenfalls jene Gruppen und NGOs aus dem linken oder grün-alternativen Spektrum, die in den letzten Monaten auf Konferenzen und in der Öffentlichkeit gegen das Embargo mobil gemacht haben. Dafür, dass die neue Menschenrechtsdiskussion im Falle des Irak auch deren inhärenten Anti-Amerikanismus in Frage stellen wird, spricht wenig. Längst ist die größte Menschenrechtsverletzung im US-dominierten Embargo ausgemacht, wie auch die von Franz Schönhuber und prominenten FPÖlern mitgegründete Organisation SOS Irak glaubt. Die fragte kürzlich ihre »Kameraden«, »ob es eine Hilfsaktion für ein Volk, das in jeder Hinsicht Leidensgenosse des deutschen Volkes ist und Verhältnisse durchstehen muss, die auch Deutschland aus seiner Geschichte kennt, wirklich nicht wert ist, in größerem Ausmaß unterstützt zu werden«.