Was tun an Weihnachten?

Hinfahren, wo man herkommt

Weihnachtsheimfahrer haben gute Gründe: das Essen, die Bescherung, das Klassentreffen.
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Mehr als 180 000 Besucherinnen und Besucher wurden erwartet. Es sollte das größte Klassentreffen aller Zeiten werden. Sechs riesige Messehallen hatte der Veranstalter angemietet. Das Konzept schien genial. Für alle Berliner Schulen wurden Treffpunkte eingerichtet. Von Freitag bis Sonntag sollte jeweils eine Generation sich dort zusammenfinden. Mal schauen, was so aus den ehemaligen MitschülerInnen geworden ist. Ein großes Hallo sollte es werden. Für so ein freudiges Wiedersehen schien ein Eintrittspreis von 20 Mark gerechtfertigt, zumal ein Showprogramm angekündigt war mit Stars wie Frank Zander und Wolfgang Lippert.

Auch ein Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde war vorgesehen. Doch daraus wurde nichts. Gerade mal 714 BesucherInnen fanden den Weg zum vermeintlichen Mega-Klassentreffen. Da saßen sie nun völlig verloren an leeren Tischen und starrten ins schale Bier. Die Künstler sagten ihre Auftritte ab, und der Veranstalter sitzt seitdem auf einem Schuldenberg von rund fünf Millionen Mark.

Mit Klassentreffen ist das eben so eine Sache. Jeder möchte gerne wissen, was aus den ganzen Deppen von damals geworden ist. Schön wäre es, einfach eine E-Mail zu bekommen, in der so in drei, vier Sätzen zu jedem ehemaligen Mitschüler ein kurzes Protokoll seines weiteren Lebensweges nachzulesen wäre. Man würde dies kurz durchlesen, schmunzeln, den Kopf schütteln, sich vielleicht auch ärgern, dass es irgend ein Obertrottel zum Doktortitel gebracht hat, und dann würde man die E-Mail wieder löschen. Fünf oder zehn Jahre später gäbe es dann die nächste Mail.

Wie gesagt, das wäre schön. Nicht so schön sind Klassentreffen. Diese gezwungene Atmosphäre, wenn alle der Reihe nach ihren Werdegang aufsagen müssen. Wer gibt schon nach dem zwölften Akademiker zu, dass er von der Sozialhilfe lebt und zwei Jahre im Knast war. Klar, dem einen oder andern würde man das schon erzählen. Gab ja auch nette Leute. Aber diesen ganzen Strebern, die es schon immer gewusst haben, dass aus diesem oder jener mal nix wird, nein, denen hätte man damals schon eins auf die Mütze geben sollen. Und heute - nachdem das Wissen um die verpasste Gelegenheit einen zehn Jahre lang geärgert hat - möchte man sich vor denen bestimmt keine Blöße geben.

Zum Glück gibt es Weihnachten! Klar, wären die Eltern nicht, vielleicht würde man sich's überlegen. Aber wenn man dann zu Hause in der alten Heimat ist, dann sind es nicht nur die Eltern, die man endlich mal wieder sieht. Denn Weihnachten sind alle, alle »zu Hause«. Zu Hause ist dann plötzlich dort, wo es schon seit Jahren eigentlich nicht mehr ist. Und selbst Leute, die seit über zehn Jahren in Berlin wohnen und ihre rheinische Sprachfärbung schon gegen ein handfestes Berlinisch eingetauscht haben, fahren zu Weihnachten plötzlich wieder »heim«. Im neuen Jahr, wenn alle wieder in Berlin sind, wird dort noch zwei Wochen lang geschwäbelt, gefränkelt und gekölnert, wie sonst das ganze Jahr nicht.

Nach der Bescherung bei den Eltern geht's in der Regel noch auf eine flotte Achtziger-Jahre-Party oder am nächsten Tag in die alte Stammkneipe. Dort sind dann alle. Ganz zwanglos, ohne Klassentreffenkrampf, erfährt man dort von den Netteren, wie ihr letztes Jahr war. Die Deppen braucht man gar nicht zu beachten. Und wenn man dennoch wissen will, was aus dieser oder jenem so geworden ist, kann man einen Dritten fragen. Es gibt ja immer ein paar Leute, die dort geblieben sind - in Bietigheim-Bissingen, Düsseldorf, Dresden, Passau oder Kiel. Die sind dann sehr gefragt. Die müssen sozusagen den Gesamtüberblick wahren. Was ist so passiert in der Stadt, in der alten Schule, in der Szene? Wo wurde gebaut, welche Disco ist neu, was ist aus der örtlichen Fußballmannschaft, Punkband, Antifa-Gruppe geworden? Und natürlich: Wer ist nun mit wem zusammen bzw. nicht mehr zusammen?

Weihnachten - das ist das größte Klassentreffen aller Zeiten. Da braucht man gar keine Messehallen und Frank Zanders anzumieten. Das Beste aber ist: So schön es auch »zu Hause« ist, nach ein paar Tagen wird man nervös, fängt an sich zu langweilen und will wieder dahin, wo zu Hause ist. Und erst wenn man wieder die Avus unter den Autoreifen spürt oder der Elbwind einem bei der Ankunft am Bahnhof durch die Haare bläst, dann weiß man wieder, was man an Berlin oder Hamburg oder welcher Stadt auch immer hat. Wegfahren, um wiederzukommen! Das ist die Philosophie! Oder ist das Psychologie? Egal. Es wirkt. Silvester feiert man wieder in der Metropole. Hier ist das Koks besser, die Musik hipper und die Mode lässiger. Die Heimat ist schön in der Ferne.