Nahost-Konflikt

Geschichte wird gedacht

Voraussetzung für eine Friedenslösung zwischen Israelis und Palästinensern ist die Anerkennung des Rückkehrrechtes der Flüchtlinge durch Israel.

Nach dem Scheitern der Verhandlungen von Camp David im Sommer letzten Jahres und der erneuten Eskalation des israelisch-palästinensischen Konfliktes seit dem 28. September 2000 ist die linke Öffentlichkeit in Deutschland bemüht, Gründe und vor allem einen Schuldigen für die bürgerkriegsähnlichen Zustände in Israel und den besetzten Gebieten zu finden.

Der aufmerksamen Leserin drängt sich dabei immer wieder einmal der Eindruck auf, dass es mehr um politische Befindlichkeiten wegen einer versäumten Aufarbeitung der eigenen Geschichte und Position im Hinblick auf den Nahostkonflikt geht, als um die Lage in Israel und Palästina selbst. Während die einen den »völkischen Nationalismus« der Palästinenser für die Eskalation im Nahen Osten verantwortlich machen, bietet die Eskalation anderen die Möglichkeit, ihre antisemitischen Vorurteile wieder einmal zu veröffentlichen. Die Auseinandersetzung mit dem Konflikt in Israel und Palästina ist notwendig, unerträglich ist es jedoch, den Konflikt für die eigene Geschichtsaufarbeitung zu instrumentalisieren.

Maßgeblich für den Ausbruch der Gewalt ist zum einen die Realität in Israel und Palästina und zum anderen die Haltung der politischen Führungsschichten im Verhandlungsprozess. Während Arafat an der Eskalation des Konfliktes interessiert sein dürfte, um seine Führungsposition zu stabilisieren, will Barak an der israelischen Vormachtstellung gegenüber den Palästinensern festhalten.

Barak hatte in Camp David Bedingungen für einen Friedenvertrag gestellt, die den palästinensischen Positionen diametral entgegenstanden. Dennoch sollte Arafat sie akzeptieren.

In den meisten Medienberichten wird Arafats Ablehnung der israelischen Position zur Jerusalemfrage für das Scheitern von Camp David und seine »sture Haltung« gegenüber Clintons Vorschlag, doch gleich ganz auf das Rückkehrrecht der Palästinenser zu verzichten, für den gegenwärtigen Stillstand der Verhandlungen verantwortlich gemacht. Hinter den israelischen Forderungen, die von der US-amerikanischen Regierung unterstützt werden, verbirgt sich jedoch die Absicht, die Besatzung mit legalen Mitteln zu festigen. Die fortdauernde israelische Kontrolle über einen Großteil des palästinensischen Territoriums prägt vor allem in der Westbank den Alltag, sie war ein maßgeblicher Grund für den Ausbruch der Gewalt.

Die US-amerikanischen und israelischen Friedensvorschläge beinhalten eine Zerstückelung des zukünftigen palästinensischen Staatsgebietes. Die israelischen Siedlungen machen zwar nur sechs Prozent der Fläche der Westbank aus, sie sind jedoch strategisch angelegt, sodass sie eine Kontrolle der palästinensischen Städte ermöglichen. Auch nach dem Beginn der israelisch-palästinensischen Verhandlungen hat sich die Zahl der Siedler in der Westbank und im Gazastreifen noch einmal stark erhöht, sie beträgt zur Zeit nach Angaben der Monatszeitschrift News from Within 400 000. Für den Siedlungsbau wurden 1 200 palästinensische Dörfer zerstört. Allein in Ostjerusalem wurden 90 000 neue Wohneinheiten für die israelisch-jüdische Bevölkerung gebaut, den bestehenden Siedlungen wurden 30 neue hinzugefügt, darunter ganze Städte wie Kiryat Sefer und Tel Zion.

Dazu kommt der Ausbau eines 480 Kilometer langen Netzes von so genannten By-pass-Straßen, die die Siedlungen miteinander verbinden und sich kreuz und quer durch die Westbank winden. Hierfür und für den Ausbau militärischer Infrastruktur zum Schutz der Siedlungen wurde kontinuierlich Land enteignet. Die Aufteilung der Westbank in die drei Zonen A, B und C mit abgestuften Graden palästinensischer Souveränität gemäß dem Abkommen von 1995 (Oslo II) erschwert die Mobilität der palästinensischen Bevölkerung und ermöglicht eine israelische Kontrolle über 61 Prozent der Westbank. Im Gazastreifen kontrollieren 6 000 israelische Siedler 40 Prozent des Territoriums, während 100 0000 Palästinenser sich den Rest des Gebietes teilen müssen.

Vor diesem Hintergrund kann auch der neueste Vorschlag von Bill Clinton nicht verwundern, setzt er doch die hegemoniale US-amerikanische und israelische Verhandlungspolitik fort. Ich halte jedoch diesen Vorschlag für einen politischen Skandal. Clintons Idee - die Palästinenser sollten auf das Rückkehrrecht im Tausch gegen Frieden verzichten - berührt den zentralen Punkt des israelisch-palästinensischen Konfliktes und orientiert sich an der vorherrschenden Geschichtsauffassung in Israel. Während für die Mehrheit der vier Millionen Flüchtlinge sowie für die Palästinenser in Israel und in den autonomen Gebieten die al-Nakba, die Katastrophe der Vertreibung und Flucht im Zusammenhang mit dem ersten israelisch-arabischen Krieg von 1948, zentral für das eigene Selbstverständnis einer besonderen palästinensischen Identität ist, wird die Vertreibung in der dominanten Geschichtsauffassung Israels bis heute geleugnet.

Vor allem die neuen Historiker sowie andere linke Kräfte in Israel und Palästina kritisieren seit geraumer Zeit den hegemonialen Geschichtsdiskurs, der zu einem zentralen Bestandteil des Staatsverständnisses wurde. Sie haben in ihren Arbeiten den Mythos von der freiwilligen Flucht der Palästinenser widerlegt. Im Herbst letzten Jahres wurde mit der Bildung eines arabisch-jüdischen Komitees eine Kampagne gegen die Leugnung der Nakba gestartet, deren Ziel es unter anderem ist, die Verdrängung der palästinensischen Geschichte zu bekämpfen. Nach Aussagen von Ilan Pappe, einem der neuen israelischen Historiker, stieß die Kampagne auf den Zorn einiger Veteranen des Krieges von 1948.

Keine der bisherigen israelischen Regierungen hat je politische Verantwortung für das Flüchtlingsproblem übernommen. Doch genau diese Haltung muss - so sehen es auch die neuen Historiker in Israel - zur Disposition stehen. Das Flüchtlingsproblem wurde in den Osloer Verträgen ausgeklammert, obwohl es den Kern des Palästinaproblems darstellt. Fünf Jahre nach der Zerstückelung der Westbank erhielt die palästinensische Führung in Camp David zum ersten Mal überhaupt die Erlaubnis, ihren Wunsch nach Behandlung dieser Frage auszudrücken - als Teil der Verhandlungen um eine dauerhafte Friedenslösung.

Dies ging jedoch nicht mit einer Einsicht auf Seiten der politischen Führung Israels einher, das Recht der Vertriebenen auf Rückkehr als legitim anzuerkennen. Barak hielt vielmehr auch nach Camp David an der alten Version von 1948 fest, nach der die Palästinenser selbst schuld an ihrer Misere seien, weil sie dem Aufruf ihrer arabischen Führer, das Land zu verlassen, freiwillig gefolgt wären. Eine Vertreibung der einheimischen Bevölkerung habe es nie gegeben.

Mit einer Zustimmung zu Clintons Friedensvorschlag würde Arafat die prägendsten und grundlegendsten Elemente palästinensischer Geschichte leugnen und der hegemonialen Geschichtsauffassung des israelischen Staates zustimmen. Während die israelische Seite Clintons Pläne billigte, erbat Arafat sich Bedenkzeit, um sie mit den arabischen Staatschefs zu diskutieren. Diese lehnten die Pläne bei einem Treffen der Arabischen Liga in der vergangenen Woche ab.

Wenn es nicht nur um die Interessen der USA und Israels gehen soll, ist die israelische Anerkennung der Verantwortung für die Nakba und deren politische Umsetzung, die Anerkennung des Rückkehrrechtes der Palästinenser bzw. eine angemessenen Entschädigung der Betroffenen, ein entscheidender Faktor für einen dauerhaften Frieden im Sinne von Versöhnung und Koexistenz. Eine linke Diskussion sollte sich zwar auch mit der eigenen Geschichte zur Palästina-Solidarität sowie zu Antizionismus und Antisemitismus befassen, dabei aber nicht die Realität in Israel und den Hintergrund des Konfliktes missachten. Der Friede ist nicht in erster Linie eine Frage der politischen Befindlichkeit, sondern die Einlösung substanzieller Rechte und ein selbstbestimmtes Leben ohne strukturelle und direkte Gewalt, und zwar für Palästinenser und Israelis.