Katharsis am Neuen Markt

Die Kurseinbrüche an den Technologiebörsen leiten eine neue Phase ein: Wer flexibel sein will, muss auch mit Verlusten umgehen können.

Kurskollaps am Neuen Markt? Alle haben es geahnt, deshalb regt sich jetzt auch niemand auf. Eher herrscht eine Stimmung der Scham. Man hat sich verführen lassen durch die Medien, die Anlageberater und die Einflüsterungen von Partybekanntschaften. Hatte nicht schon vor Monaten der niederländische Notenbankchef Arnout Wellink gewarnt: »Seien Sie bei Internet-Titeln auf der Hut«? Also.

»Die Deutschen gehen zuversichtlich ins neue Jahr«, finden jetzt das Meinungsforschungsinstitut Allensbach und die FAZ für ihre Bilanz des Jahres 2000 heraus. Mehr noch: »Die Stimmung wird immer besser.« Von diesem High will sich niemand herunterstoßen lassen, auch und schon gar nicht die Opfer der Abstürze an Nemax und Nasdaq. Selbst die schwer gebeutelten Kleinanleger des E-Commerce-Unternehmens Intershop übten sich nach dem 70-Prozent-Einbruch ihrer Aktie zu Jahresbeginn in Gelassenheit. Der Crash werde überbewertet. So sei eben die Börse. Immer auf und ab.

Besitz macht gelassen, sogar wenn er plötzlich nur noch ein Drittel wert ist. Mehr noch, der Verlust scheint mobilisierend zu wirken. Erklärungen werden gesucht, Strategien der Risikominimierung entwickelt, notfalls wird Uwe Jean Heuser von der Zeit konsultiert. Dieser klärt mitfühlend über den »Sog des Ökonomischen« und den »diffusen Druck« der vermeintlichen Wahlfreiheit im digitalen Kapitalismus auf, kommt aber rechtzeitig auf die guten Seiten des Konkurrenzprinzips zu sprechen: »Mehr Markt, mehr Wettbewerb in der Ökonomie und in den Köpfen schaffen ein Element der Befreiung und der Fairness.«

Die Universalisierung des Ökonomischen - oder wie immer man das hinter solchen Äußerungen stehende Prinzip nennen soll - wirkt als universelles Sedativum mit Geltungsanspruch. Eigentlich ahnt jeder Telekom-Kleinanleger, dass sein individuelles Opfer einer notwendigen Reinigung des Marktes dient, der Trennung von »Spreu und Weizen«, wie es jetzt in der Sprache der Säuberer in den Finanzberatungsmagazinen heißt.

In den USA hält man den überall platzenden Web-Business-Blasen statt Scham und Zweckoptimismus bereits Zynismus entgegen. Die vielen arbeitslos gewordenen Dot-com-Mitarbeiter im Silicon Valley amüsieren sich mit Sites wie ijustgotfired.com, netslaves.com oder fuckedcompany.com. So mancher Internet-Mensch ist froh, die netzfremden Unternehmertypen aus den Banken und Risikokapitalfirmen los geworden zu sein, auch wenn sie ihr Geld gleich mitgenommen haben. Jetzt kann wieder an und in der Netzkultur gearbeitet werden.

Der Einstieg in die Welt der so genannten New Economy verknüpft sich für den Großteil der Akteure mit dem hingebungsvollen Verzicht auf Besitz alter Ordnung. Viel verlockender als sofortige Belohnung ist die Aussicht auf größeren Gewinn in der Zukunft. MitarbeiterInnen eines Start-Up-Unternehmens erwarten fürs erste Profite anderer Art: Nicht das ökonomische Kapital - das kann warten, man ist ja noch jung -, sondern kulturelle Kapitalien, Anleitungen zur Professionalisierung, Kontakt mit Usern und Klienten, den Boss duzen, Teilnahme am Lifestyle der neuen Gründerzeit.

»Das Wichtigste in einem Start-up ist die Kultur«, zitierte die Zeit im Juli 2000 den DooYoo-Gründer Marcus Rudert. Die Illusion, das ökonomische Interesse sei an ein kulturelles Projekt geknüpft, das etwas mit Revolution und Aufbruch zu tun habe, gehört zum ehernen Bestand der New-Economy-Ideologie. Der blutjunge Unternehmensgründer ist ein Genie, seine Geschäftsidee eine Vision, das Mindeste, was man sich als MitarbeiterIn abverlangen sollte, commitment. Und in Berlin-Mitte oder im Londoner East End werden Dot-Com-Büros in unmittelbarer Nachbarschaft von Galerien eröffnet.

Inzwischen gehört das alles längst zur New-Economy-Folklore. Das Bild vom Chef, der sich nicht zu schade ist, die Pizza zu holen, wird jetzt durch die kathartische Szene abgerundet, in der derselbe Chef den Bankrott und damit die totale Wertlosigkeit der Unternehmensanteile der MitarbeiterInnen verkündet. Wow! »Umsatz- und Gewinnerwartungen verdrängen Wachstumsvisionen aus dem Mittelpunkt des Interesses«, umschreibt die deutsche Financial Times die Ankunft der New Economy in der »rauen Wirklichkeit« der Ökonomie alter Ordnung.

Die raue Wirklichkeit hat in der Regel wenig Sinn für Kultur. Umsatzerwartungen können auf Visionen verzichten. Schlägt jetzt, da die Träume vom schnellen Börsengang ausgeträumt sind, die Stunde eines distinktionsbewussten New-Economy-Undergrounds? In den Kreisen derjenigen, die schon seit einiger Zeit die Übernahme der Netzkultur durch die Kapitalgeber beklagen, scheint es dringend geboten, zwischen schlechter und guter New Economy zu unterscheiden.

Es gilt, eine soziokulturelle Klassifikation zum eigenen Vorteil vorzunehmen, die es vielleicht sogar erlaubt, sich vom schmuddelig gewordenen Label New Economy ganz zu befreien. Zum Beispiel, indem man nicht auf willkürlich gesetzte Statussymbole zurückgreift, sondern das Prekäre der eigenen Situation zur Identitätsbildung benutzt. Wir haben zwar nichts. Aber wir formieren hier nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine kulturelle Avantgarde. Vernetzt, mobil, autonom, rhizomatisch.

Doch auch solche Selbstbeschreibungen sind voller Existenzgründer-Kitsch. Die ideologischen Verheißungen einer vermeintlich neuen Art, den ökonomischen Überlebenskampf mit kulturellen Programmen zu schmücken, sind aber auch Ausdruck einer bestimmten Rationalität. Die kleinen flexiblen Einheiten, das Quereinsteigertum, die hybriden Wissensformen, der Enthusiasmus und

all die anderen Merkmale, die Kunst, Underground und New Economy angeblich miteinander verbinden, werden ja nicht zufällig mit Belobigungen aus allen Ecken der Gesellschaft bedacht. Inzwischen beten nicht nur Managementtheoretiker oder Bundeskanzler Gerhard Schröder, sondern auch Vertreter der Gewerkschaften, die sich neuerdings in New-Economy-Betrieben bemerkbar machen, das Mantra von flachen Hierarchien, teilautonomen Institutionen und mutigen Experimenten herunter.

»In Phasen relativer Verunsicherung wird der Status jedes Wissens prekärer, zugleich ist die versichernde Funktion des Wissens beim Aufbau neuer Sicherheiten gefragt«, schrieben 1987 die Risikoforscher Adalbert Evers und Helga Nowotny. Sicherheit verspricht in den heutigen Zeiten allein das Erlebnis Ökonomie, und deren Erleben darf dann auch - phasenweise - ein Erleiden sein. Die Einwilligung in ein solches Erleiden nimmt die Form eines Wissens an, das beim Aufbau neuer Sicherheiten in der Unsicherheit hilft. Entscheidend für gegenwärtige Subjektivierungsprozesse ist es, mit Konjunkturen, Krisen und Aufschwüngen immer selbstverständlicher und souveräner umgehen zu lernen. Hierin zeigt sich die »Ökonomie der Macht« (Foucault), die den Subjekten mit der Fähigkeit zur Kontingenzbewältigung auch eine Selbsttechnologie abverlangt, die eng mit den Herrschaftstechniken von Beschleunigung, Deregulierung und Kulturalisierung verbunden ist.

Die Lockerungsübungen der New-Economy-Culture haben bis weit hinein in Kreise einer linken Boheme zurückgewirkt, von denen ja die entsprechenden Appelle an Deregulierung, Flexibilität und Einsatzbereitschaft ursprünglich ausgegangen waren. Ob all die kleineren und größeren ökonomisch-kulturellen Selbstermächtigungen (zum Kleinunternehmertum) endgültig auf eine kolossale Selbstentmächtigung hinauslaufen, wie sie symbolisch von Vertretern eines flexibilisierten Kulturunternehmertums wie Christoph Schlingensief vorgeführt wird? Oder lässt sich aus den Trümmern noch etwas Konstruktiveres bergen?

Die gegenwärtigen Einbrüche am Internet-Markt bedeuten nicht das Ende der New Economy. Die Pleiten dienen vielmehr der Durchsetzung einer Ordnung, in der erneut ein Old-Economy-Gigant vom Schlage General Electric an der Spitze der Liste der weltweit größten Unternehmen steht. Aber vielleicht führt diese Entwicklung ja auch dazu, dass sich neue Subjektivitäten entwickeln. Subjekte, die aus der Verschränkung von Selbstorganisation und Ausbeutungseffekten den Schluss ziehen, dass der Kultur misstraut werden muss, will man nicht den falschen Versprechungen der Ökonomie anheimfallen. Eine Minimalhoffnung.