Deregulierung auf dem Arbeitsmarkt

Tarife auf Talfahrt

Die von Wirtschaftsminister Müller geforderte Öffnung der Tarifverträge wird bereits praktiziert. Mit Zustimmung der Gewerkschaften.

Rezzo Schlauch ist nicht mehr allein. Denn auf seiner Fahrt in den deregulierten Arbeitsmarkt folgte dem Vorsitzenden der grünen Bundestagsfraktion letzte Woche der parteilose Wirtschaftsminister Werner Müller. Wie Schlauch vor gut zwei Monaten fordert Müller nun ebenfalls, notleidenden Betrieben Abweichungen vom Tarifvertrag zu ermöglichen. Nichts für Gewerkschafter: »Ein ganz linker Schuh« sei das, kommentierte die DGB-Vizechefin Ursula Engelen-Kefer am Wochenende den erneuten Vorstoß zur Aushebelung des Tarifrechts.

Wirtschaftsminister Müller verteidigte sein Projekt derweil gegen den Vorwurf, damit die Gewerkschaften auszuschalten. »Man lässt zu, dass auf Betriebsebene Abweichungen vom Tarifvertrag vereinbart werden können, die aber die Zustimmung beider Tarifvertragsparteien bekommen müssen.« Das sei eine sinnvolle Neuinterpretation des Günstigkeitsprinzips, behauptet Müller. Doch taucht die Vokabel weder im Tarifvertrags- noch im Betriebsverfassungsgesetz auf. Ausdrücklich bekräfigt wird dort jedoch, dass »Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, (...) nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein« können. Es sei denn, der Tarifvertrag lasse eine ergänzende Regelung zu.

Die jedoch sieht der Arbeitsrechtler Wolfgang Däubler von der Universität Bremen nicht: »Dem einzelnen Arbeitgeber und dem einzelnen Arbeitnehmer ist es nicht möglich, von dem tariflich Vereinbarten zum Nachteil des Arbeitnehmers abzuweichen.« In dieser »Mindestniveaugarantie« liege der entscheidende Wert des Tarifvertrages: »Dem Arbeitgeber ist es verwehrt, seine Überlegenheit gegenüber dem Einzelnen auszuspielen und ihm die Arbeitsbedingungen zu diktieren.«

Das Günstigkeitsprinzip, das Müller nun anführt, hat sich in der Rechtssprechung der Arbeitsgerichte entwickelt. Es besagt, dass nach Abwägung aller Faktoren für den Arbeitnehmer die jeweils »günstigeren« Arbeitsbedingungen zu gelten haben. Bisher wurde das so ausgelegt, dass der Tarifvertrag vor allen anderen Verträgen Vorrang hat. So stellte etwa das Bundesarbeitsgericht fest, eine Arbeitsplatzgarantie könne nicht mit Tarifabweichungen nach unten verrechnet werden.

Engelen-Kefer und auch andere Gewerkschafter lehnen Müllers Idee kategorisch ab. Dadurch würde ein ruinöser Wettbewerb um die billigsten Arbeitsbedingungen und die größten kurzfristigen Kostenvorteile ausgelöst, so die Vizechefin des DGB. Obwohl Müllers Vorschlag längst umgesetzt ist, wie der DGB-Tarifexperte Reinhard Dombre erklärt: »In einer nicht geringen Anzahl von Tarifverträgen gibt es bereits solche Öffnungsklauseln.« Kämpft ein Betrieb nachweislich ums Überleben, kann der Lohn um zehn Prozent gesenkt oder die Arbeitszeit je nach Bedarf verlängert oder verkürzt werden. »Dazu muss der Arbeitgeber aber alle betriebswirtschaftlich relevanten Zahlen auf den Tisch legen. Weil das aber sehr wenige tun, wird von den Öffnungsklauseln kaum Gebrauch gemacht«, sagt Dombre.

Reinhard Bispinck vom Wirtschafts- und Sozialpolitischen Institut des DGB in Düsseldorf hat die bestehenden Tarifverträge auf Öffnungsklauseln untersucht. Er kommt zu dem Schluss, dass in über 100 Tarifbereichen mit rund 13 Millionen Beschäftigten die von Müller und Schlauch geforderten Abweichungen möglich sind. »In einer Reihe von Fällen erreicht die Tariföffnung und die Delegation der Konkretisierung von tariflichen Rahmenregelungen an die Betriebsparteien ein Ausmaß, welches die Gestaltungskraft des Tarifvertrages spürbar schwächt.« Die Behauptung, der Flächentarifvertrag sei zu starr, habe mit der Realität nichts zu tun.

In einer ganzen Reihe von Tarifverträgen - so etwa im Brauereigewerbe, in der Zigarettenindustrie oder im Ernährungsgewerbe - vereinbarte die Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG) eine Lohnkürzung um bis zu fünf Prozent für Fälle, in denen sich Betriebe in einer »nachvollziehbaren wirtschaftlichen Notlage« befinden. Zudem kann in Einzelfällen das Weihnachtsgeld gestrichen werden. Auch eine Reduzierung der Arbeitszeit bei gleichzeitiger Reduzierung des Lohns ist möglich. Wird dagegen die Arbeitszeit verlängert, bedarf es keines Lohnausgleichs.

Und für die rund 600 000 Beschäftigten in der westdeutschen chemischen Industrie vereinbarte die IG Bergbau, Chemie, Energie (BCE) ein ganzes Bündel von »beschäftigungssichernden Maßnahmen«: Neu eingestellte Langzeitarbeitslose können zu 95 Prozent des Tarifs beschäftigt werden. Bei »wirtschaftlichen Schwierigkeiten« kann der Lohn um zehn Prozent gekürzt werden. Ebenso können Arbeitszeit und Jahresleistungen verändert werden. Das kann durch Betriebsvereinbarungen geschehen, die von der Gewerkschaft abgesegnet werden müssen. Für Ostdeutschland sind die Regelungen zum Teil noch weitreichender.

Auch in vielen Bereichen der Metall- und Elektroindustrie wie auch in der Druckindustrie sind solche »Tarifkorridore« möglich. Der IG Medien-Vorsitzende Detlef Hensche sagt, keine Gewerkschaft sei so borniert, im Falle der Sanierungsfähigkeit eines Betriebs Arbeitsplätze aufs Spiel zu setzen, nur weil der Wortlaut des Tarifvertrags dies vorsehe. Doch »Öffnungsklauseln müssen an enge und überprüfbare Voraussetzungen geknüpft sein«, fordert Hensche. Wer den Gewerkschaften in diesem Zusammenhang Strukturkonservatismus vorwerfe, wisse nicht, wovon er spreche.

Im Bereich der Gewerkschaft ÖTV hat die tarifpolitische Talfahrt bereits ein atemberaubendes Tempo erreicht. Weil beispielsweise Nahverkehrslizenzen künftig in der ganzen EU ausgeschrieben werden müssen, wurden die Tarife nach unten korrigiert. Beschäftigte des öffentlichen Nahverkehrs müssen künftig auf jährlich 2 000 bis 3 000 Mark ihres Lohns verzichten. Dabei droht hier keinesfalls die »Billigkonkurrenz« eines Busfahrers aus Portugal. Vielmehr wurden die öffentlichen Tarife an den schlechteren Tarif des privaten Nahverkehrs angepasst.