Schikanen gegen russische Zwangsarbeiter

Warten und sterben

Verzögerungen in Deutschland machen es ehemaligen russischen ZwangsarbeiterInnen schwer, Entschädigungszahlungen zu beantragen.

In den osteuropäischen Ländern und in der Russischen Föderation war das im letzten Juli beschlossene Gesetz zur Entschädigung früherer ZwangsarbeiterInnen positiv aufgenommen worden, schien damit doch erstmals nach 55 Jahren eine Entschädigung für Deportation und Versklavung in Sicht. Mehr als fünf Monate nach der Verabschiedung des Gesetzes ist jedoch noch immer kein Pfennig an die ZwangsarbeiterInnen gezahlt worden.

Ein schwer wiegender Grund für die Verzögerung ist die Forderung der deutschen Wirtschaft nach Rechtssicherheit vor individuellen Klagen ehemaliger ZwangsarbeiterInnen. Bevor der Bundestag festgestellt hat, dass derartige Klagen ausgeschlossen sind, stellt die Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft keinerlei Mittel für die Entschädigung bereit. Über die Zulässigkeit der letzten Sammelklage in den USA auf Kompensationen, in diesem Fall für »arisiertes« Bankvermögen, wird ein US-amerikanisches Gericht am 24. Januar 2001 entscheiden.

Aber auch dann ist nicht unbedingt damit zu rechnen, dass ehemalige ZwangsarbeiterInnen Entschädigungen erhalten. Denn um als anspruchsberechtigt anerkannt zu werden, sind Nachweise über die damalige Beschäftigung in einem deutschen Betrieb, auf einem Bauernhof oder in einem Privathaushalt zu erbringen. Und das innerhalb der Antragsfrist bis August 2001.

Alexander Wosutkin von der Moskauer Partnerstiftung Verständigung und Aussöhnung rechnet aber damit, dass die Suche nach Belegen eineinhalb bis zwei Jahre in Anspruch nehmen wird. Denn da die wenigsten ZwangsarbeiterInnen jemals Dokumente besessen haben, die ihre Deportation und Versklavung belegen, müssen sie sich an den Internationalen Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes in Bad Arolsen oder an kommunale und Staatsarchive wenden.

Hinzu kommt, dass die vollständigen Beträge erst dann an die Überlebenden bzw. deren Angehörige ausgezahlt werden, wenn über alle eingegangenen Anträge entschieden wurde. Die erste Rate umfasst nur 35 bis 50 Prozent der möglichen Entschädigung. Hoffnung auf diese ersten Zahlungen - voraussichtlich im April 2001 - können sich allerdings nur diejenigen machen, die bereits bis Ende März alle Nachweise vorlegen können.

Seit Oktober 2000 verhandelt die deutsche Stiftungsinitiative mit den Partnerorganisationen um die konkreten Antrags- und Auszahlungsmodalitäten. Auseinandersetzungen gibt es vor allem um die im Gesetz fixierte Öffnungsklausel, die es den Partnerorganisationen erlaubt, auch ZwangsarbeiterInnen im landwirtschaftlichen Bereich zu berücksichtigen, die nicht unter die Kategorien der Anspruchsberechtigten fallen. Dies würde zu Lasten anderer ZwangsarbeiterInnen gehen, da die Partnerorganisationen nur einen vorab bestimmten Höchstbetrag zur Verfügung haben. Strittig ist auch, ob Personen, die als Kind mit ihren Eltern deportiert wurden, Entschädigungen erhalten können.

Dass trotz der heftigen Auseinandersetzungen um die Kategorisierung der Opfer während der Verhandlungen immer noch viele Fragen offen sind, liegt u.a. daran, dass bis Ende Oktober vergangenen Jahres keine offizielle Übersetzung des Stiftungsgesetzes vorlag. Wladimir E. Schnittke von Memorial St. Petersburg erklärt, die Argumentation der hiesigen Stiftungen habe sich immer auf selbst angefertigte Dokumente stützen müssen. Angesichts der verwendeten juristischen Konstruktionen zur Definition der Anspruchsberechtigten führte dies zu erheblichen Verständnisschwierigkeiten. Die Probleme, die sich für die AntragstellerInnen aus den Vergabekriterien des Stiftungsgesetzes ergeben, wurden daher erst im Nachhinein erkennbar. Aus dem gleichen Grund konnten bisher kaum eigene Konzepte zur Umsetzung des Gesetzes entwickelt werden. Der Partnervertrag zwischen der russischen und der deutschen Stiftung, der die Einzelheiten der Auszahlungsmechanismen regelt, soll erst Mitte Januar abgeschlossen werden.

Das einzige, was bisher defintiv feststeht, ist nicht im Interesse der ehemaligen ZwangsarbeiterInnen: Ehe sie aus dem Stiftungsfonds überhaupt etwas erhalten, müssen sie erklären, dass sie keine weiteren Ansprüche gegenüber der BRD oder deutschen Unternehmen anmelden werden. Marxena Nikiforowna, Mitbegründerin der St. Petersburger Vereinigung von Personen, die Naziverfolgungen ausgesetzt waren, ist darüber empört: »Warum sollen wir zusammen mit den Anträgen eine Verzichtserklärung abgeben, wenn wir nicht einmal wissen, ob und wann wir die Entschädigung je erhalten? Wenn wir einmal Geld bekommen haben, bitte sehr, aber warum vorher?«

Auch wenn dieser Verzicht erst mit dem Erhalt einer Leistung wirksam werden soll, stößt eine solche Klausel auf Unverständnis. Woher sollen diejenigen, die über Jahrzehnte hinweg Repressalien ausgesetzt waren oder deren Schicksal verschwiegen wurde, heute die Gewissheit nehmen, tatsächlich eine Entschädigung zu bekommen?

Angesichts der Verzögerungen und der aufgebauten Hürden sind Zweifel daran, dass ehemalige ZwangsarbeiterInnen jemals für Deportation, Versklavung und willkürliche Misshandlungen entschädigt werden, nur allzu berechtigt. Nicht nur deshalb, weil eine wirkliche Entschädigung weitaus höher ausfallen müsste als die zugesagten Beträge und weil im Grunde auch die Nachzahlung der vorenthaltenen Löhne auf der Tagesordnung stehen sollte. Der BRD scheint zu gelingen, was sie schon immer wollte: die nationalsozialistische Vergangenheit abzuschließen, ohne sich vor den Opfern verantworten zu müssen. Bald dürfte kaum eine(r) der ehemaligen ZwangsarbeiterInnen mehr am Leben sein. Während ihrer Deportation in den Jahren 1941 bis 1945 waren die meisten zwischen 15 und 25 Jahren alt. Die derzeitige durchschnittliche Lebenserwartung in der Russischen Föderation beträgt für Frauen 72, für Männer 59,8 Jahre.