Schweden entsorgt Neutralität

Durch die Hintertür

Schweden verabschiedet sich von seiner traditionellen Neutralität. Die EU-Ratspräsidentschaft beschleunigt diesen Prozess.

Ein derart euroskeptisches Land wie Schweden hat wohl noch nie die EU-Ratspräsidentschaft übernommen. Nach jüngsten Meinungsumfragen wollen nur 37 Prozent der Einwohner, dass ihr Land auf jeden Fall in der EU bleibt, während 43 Prozent am liebsten gleich austreten möchten. Einig ist man sich nur über die osteuropäischen Beitrittskandidaten. 70 Prozent wollen sie so schnell wie möglich in der EU sehen.

Länder wie Estland, Litauen und Lettland setzen daher große Hoffnung auf die schwedische Präsidentschaft. »Für die meisten Kandidaten« erhoffe man sich »einen positiven Durchbruch«, sagt Ministerpräsident Göran Persson. Und Außenministerin Anna Lindh ergänzte: »Ich bin optimistisch, dass beim EU-Gipfel in Göteborg im Juni Beitrittstermine genannt werden können.«

Schließlich will man während der Präsidentschaft besonderen Wert auf die »Drei E« legen - Enlargement, Employment, Environment (Erweiterung, Beschäftigung, Umwelt). Unter www.eu2001.se präsentiert man stolz die großen Pläne. Vorbildlich bürgerfreundlich sind dort sogar die Handynummern der Referatsleiter zu finden. Weil man aber wenig Hoffnung auf eine dauerhafte Erholung des europäischen Arbeitsmarkts und auf einen gemeinsamen Ausstieg aus der Atomenergie setzt, gibt es sicherheitshalber noch zwei weitere E: Education und Equality, Bildung und Gleichstellung von Frauen. Kein EU-Land wird sich dagegen aussprechen, so mag man sich gedacht haben, weswegen man zumindest in diesen Punkten einstimmige Erklärungen abgeben wird.

In einem Punkt jedoch steht Schweden auch während der eigenen Präsidentschaft draußen vor der Tür. Man wird den Euro nicht zum ersten Januar 2002 einführen. Deswegen haben die schwedischen EU-Vertreter bei Beschlüssen zur neuen Währung kein Stimmrecht und müssen den Tagungsraum verlassen.

Ein anderes Thema spielt in der EU keine Rolle, obwohl es in Schweden derzeit heftig diskutiert wird: die traditionelle schwedische Neutralität. Ausgerechnet dem Land mit der längsten Neutralitätsgeschichte wird die Rolle eines Vermittlers zwischen Nato und EU zufallen.

Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts, unter dem aus Frankreich stammenden Karl XIV. Johan, hatte die Neutralitätspolitik des Landes begonnen. Nach dem 1814 geschlossenen Kieler Frieden bildeten Schweden und Norwegen eine Personalunion, die bis 1905 bestand. Norwegen entschied sich erst 1949, nach dem Ende der deutschen Besatzung, seine Neutralität aufzugeben und Gründungsmitglied der Nato zu werden, während Schweden weiterhin neutral blieb. Vor der Volksabstimmung über den EU-Beitritt im Jahr 1994 hatte man immer wieder versichert, dass die schwedische Neutralität auf keinen Fall angetastet werde.

Linke Gruppen beklagten jedoch schon kurz darauf, dass sich der Neutralitätsbegriff immer stärker verändere. So nehme das Land aktiv an der »Militärallianz Westeuropäische Union« und am Nato-Programm »Partnerschaft für den Frieden« teil.

Ende Dezember 1999 trafen sich bei einem von der schwedischen Zeitung Aftonbladet organisierten Gespräch mit Hans Lindqvist und Göran Lennmarker zwei Protagonisten der damaligen Befürworter bzw. Gegner des EU-Beitritts. »Das vielleicht Tragischste war, dass unsere Gegner von Ja-Siden damals sagten, dass es keine gemeinsame Verteidigungspolitik geben werde«, erklärte Lindqvist, der damals die Neinsager organisierte. In Schweden gebe es »eine große Mehrheit nicht unbedingt für die etwas altmodische Neutralität, aber für die Allianzfreiheit«. Mit dem Beschluss, Soldaten für die europäischen Einstzkräfte zur Verfügung zu stellen, seien aber die Grenzen überschritten worden.

Göran Lennmaker, der Leiter der Beitrittskampagne, hatte damals argumentiert, je mehr Zusamenarbeit es in Europa gebe, desto unwahrscheinlicher würden Kriege werden. Und in einem überschaubaren Zeitraum werde keine EU-Militärallianz zu Stande kommen.

Schweden ist zwar immer noch nicht Mitglied einer Allianz, wendet sich aber immer stärker der europäischen Verteidigungspolitik zu. Ende 1999 stimmte die Regierung dem Aufbau einer Europäischen Schnellen Eingreiftruppe, des Eurocorps, zu. Weil gleichzeitig auch die Zusammenarbeit zwischen EU und Nato verstärkt werden soll, bedeutet dies eigentlich das Ende der Neutralitätspolitik.

Lennmarker sieht das natürlich nicht so. Die europäische Verteidigungspolitik bezeichnete er als »doppelt freiwillig«: »Niemand wird gezwungen, dabei zu sein. Man kann sich genauso gut entscheiden, nicht teilzunehmen.« Da ist die schwedische Außenministerin Anna Lindh schon weiter: Im schwedischen Parlament erklärte sie vor kurzem, die Neutralität sei »kein Dogma« der schwedischen Außenpolitik.

Im Nato-Mitgliedsland Norwegen werden die Bemühungen der Nachbarn Schweden und Finnland um Neutralität bei gleichzeitiger Allianzzugehörigkeit genau beobachtet. Schließlich sorgte die schwedische Neutralitätspolitik gegenüber den Nazis sehr wohl für eine Verlängerung des Zweiten Weltkriegs, weil sie es den Deutschen unter anderem ermöglichte, das kriegswichtige Eisenerz über schwedische Bahnstrecken zu transportieren.

Seitdem haben die Norweger keine besonders hohe Meinung von der schwedischen Neutralität. »Durch die Hintertür in die Nato« wollten Länder wie Österreich, Irland, Finnland und Schweden mit ihrem Entschluss, Teil der europäischen Eingreiftruppe zu werden. Die Erklärung, die die neutralen Staaten dazu abgaben, ist eine exakte Kopie der Petersberger Beschlüsse von 1992. Damals wurde die Grundlage für die »militärisch-humanitären Operationen« der EU-Länder z.B. während des Golf-Krieges geschaffen.

Die norwegische Tageszeitung Dagbladet kommentierte, es sei »völlig bedeutungslos«, wenn »Länder wie Finnland und Schweden sich immer noch neutral nennen - besonders nun, wo es eigentlich niemanden mehr gibt, dem gegenüber man sich neutral verhalten könnte«.

De facto ist es auch mit der beschworenen Allianzfreiheit nicht weit her. Schwedische und finnische Soldaten befinden sich derzeit unter dem Oberkommando eines US-amerikanischen Generals in Bosnien, nahmen an europäischen Manövern teil, die nach Nato-Plänen durchgeführt wurden. Die letzte gemeinsame Übung in Ungarn erhielt zwar mit dem Szenario einer Erdbebenkatastrophe einen humanitären Anstrich. Doch dieses Image konnte schon bei der simulierten Rettung eines Nato-U-Bootes vor der norwegischen Küste im Frühsommer letzten Jahres beim besten Willen nicht mehr aufrechterhalten werden.

»Ex-neutrale Länder« nennt Dagbladet die Nachbarn daher süffisant und verweist darauf, dass sie in Zukunft vor großen Problemen stehen könnten, wenn sie der eigenen Bevölkerung ihre Art von Neutralität erklären müssen. Aber vielleicht werde es gar nicht so schlimm kommen wie befürchtet: »Bis auf weiteres muss man eben das eine tun und gleichzeitig das andere sagen. Und das ist doch eigentlich genau das, was Schweden mindestens während der gesamten Nachkriegszeit getan hat.«