Streik im polnischen Gesundheitswesen

Wütende Schwestern

Die Zugeständnisse der Regierung spalten den Streik im polnischen Gesundheitswesen.

Stanislaw, 50, mit künstlichen Herzklappen, schleppte sich noch bis ins Büro der Krankenkasse. Dort erlag er seinem Herzleiden. Stunden vorher war er von einem Krankenhaus »wegen Terminschwierigkeiten« abgewiesen worden. Piotr, 58, hatte es zwar bis ins Wartezimmer geschafft, starb dort aber nach fünf Stunden Schlangestehen. Er wollte sich für die Kardiologie wegen einer Herzattacke registrieren lassen. In Polen stirbt man wieder an Grippe, Wundstarrkrampf und fehlender Behandlung.

Zu wenig Krankenhäuser, Geräte, Medikamente und Personal: Die Versorgung erinnert an ein Land in der Dritten Welt. Rettungswagen kommen zu spät oder gar nicht. Wer ein Bett im Krankenhaus ergattert hat, wird nur notdürftig behandelt. Langzeitschäden sind die häufigen Folgen. »Viele der Apparaturen stammen noch aus Beständen der Hilfe der Vereinten Nationen gleich nach Kriegsende«, berichtet die Wochenzeitschrift Polityka und fügt ironisch hinzu: »Die Apparate arbeiten auf Ehrenwort, denn Ersatzteile gibt es lange schon nicht mehr für diese Technik-Denkmäler.«

Anfang 1999 trat die Gesundheitsreform der konservativ-liberalen Koalition aus Solidarnosc (AWS) und Freiheitsunion (UW) in Kraft. Sie sollte der Misere Abhilfe schaffen, den Staatshaushalt entlasten und das Gesundheitssystem fit für den Standort Polen machen. Während früher der Staat unmittelbar für die komplette Gesundheitsversorgung zuständig war, wurden nun 16 regionale Krankenkassen ins Leben gerufen. Die Höhe der Beiträge wird von der Regierung festgelegt, derzeit liegen sie bei 7,5 Prozent des Einkommens. Die Kassen wiederum verhandeln mit selbständigen Krankenhausbetreibern und schließen Verträge über Leistungen und Preise der Gesundheitsversorgung. Für die Gebäude und das medizinische Gerät sind die Kreise und Gemeinden verantwortlich.

Das Personal ist nun bei den Krankenhausbetreibern beschäftigt, d.h. die Bezahlung der Angestellten ist vom Ministerium auf die Direktoren der Krankenhäuser übergegangen. Deren erste Amtshandlung war es häufig, Pflegepersonal zu entlassen. Zudem setzte bald das Gerangel um die Löhne ein. Zuerst meldeten sich die Anästhesisten. 1 800 von insgesamt 2 700 Fachkräften legten die Arbeit nieder und verlangten das Zehnfache des alten Lohns. Chirurgen und Notärzte taten es ihnen gleich.

Obwohl die Regierung zunächst den Vertragsabschluss mit den Anästhesisten verbot, genehmigte der Gesundheitsminister nach Hungerstreiks doch noch einzelne Verträge mit Monatsgehältern von bis zu 10 000 Zloty (2 500 Euro). Das Grundgehalt eines normalen Narkosearztes nach zehn Dienstjahren betrug früher etwa 800 Zloty (400 Euro), was etwa zwei Dritteln eines polnischen Durchschnittslohns entsprach.

Während Ärzte wegen ihrer hohen Qualifikation noch relativ leicht Lohnerhöhungen durchsetzen können, zumal wenn sie mit Auswanderung drohen, sieht es beim Pflegepersonal düster aus. Der europäische Arbeitsmarkt ist gesättigt, Arbeitserlaubnisse im Westen sind nicht zu erhalten. Hinzu kommt, dass Frauen häufig als Zweitverdienende neben ihren Ehemännern gar nicht die Wahl haben, das Land zu verlassen. Vor den großen Streiks verdienten sie so viel wie die Ärzte.

Letztes Jahr ließen sich die Krankenschwestern und Hebammen noch mit zwei Prozent mehr Lohn plus Inflationsausgleich abspeisen. Als selbst diese Erhöhung nicht oder zu spät ausgezahlt wurde, gingen die Schwestern in die Offensive. Seit September vergangenen Jahres schlossen sich immer mehr den Streiks und Protesten an, die im Dezember ihren Höhepunkt erreichten. Die internationale Bahnstrecke von Berlin nach Moskau wurde lahm gelegt, Grenzübergänge nach Deutschland wurden blockiert, Krankenhäuser, das Arbeits- und das Gesundheitsministerium besetzt. Zeitweilig wurde knapp die Hälfte aller Krankenhäuser bestreikt, mehrere Tausend Frauen gingen in den Hungerstreik.

Die sich über Monate hinziehende Kampagne war einer der bestorganisierten Arbeitskämpfe Polens in den vergangenen Jahren. Frauen kamen aus der Provinz nach Warschau, um für einige Stunden Streikposten abzulösen, und fuhren zur nächsten Nachtschicht wieder heim. Viele nahmen sich Urlaub, um die Demonstration zu unterstützen, denn wer »unerlaubt« der Arbeit fernblieb, verlor seinen Arbeitsplatz.

Die Schwestern erfuhren große Unterstützung aus der Bevölkerung, kurzzeitig streiten sogar aus Solidarität einige Bergarbeiter. Die alten Kampfgefährten aus den glorreichen Tagen der Solidarnosc-Zeiten, die jetzt in der Regierung oder den Redaktionsbüros großer Zeitungen sitzen, appellierten hingegen an die »Vernunft« der Schwestern. Der Haushalt sei ausgeschöpft, die öffentlichen Kassen könnten nicht weiter belastet werden, für die EU-Beitrittskriterien müssten eben alle den Gürtel enger schnallen.

Anfangs wurden die Proteste der Schwestern arrogant belächelt. Keiner konnte sich liebenswürdige Pflegeschwesterchen bei Straßenblockaden und Ministeriumsbesetzungen vorstellen. Das Bild wurde in den Tagen vor Weihnachten erschüttert.

Die Gewerkschaft der Krankenschwestern und Hebammen forderte landesweite Mindestlöhne, die sich am Einkommensdurchschnitt orientieren, Gespräche mit der Regierung und höhere Investitionen in das Gesundheitssystem. Vergangene Woche schaltete sich Präsident Aleksander Kwasniewski in den Konflikt ein. Die Regierung sagte verbindlich eine Lohnerhöhung von 203 Zloty (50 Euro) zu.

Die Kassen sind jedoch nicht bereit, neue Verträge mit den Krankenhäusern zu unterschreiben. Damit hat sich die Regierung geschickt aus der Affäre gezogen und das Problem auf die Krankenhäuser abgewälzt. Die Proteste gehen seitdem deutlich zurück, jede Belegschaft muss nun einzeln mit dem jeweiligen Direktor verhandeln, was - ähnlich wie schon bei den Ärzten - zur Spaltung der Bewegung führt. Die Strategie der Regierung besteht genau aus dieser Individualisierung. Vertragsfreiheit ist das Schlagwort: Jeder Arzt und jede Schwester soll seinen Arbeitsvertrag selbst aushandeln.

Auch die Versorgung soll »weniger kollektivistisch« organisiert werden. Lebhaft wird in der Presse über die Einführung von Privatversicherungen diskutiert. Doch wem seine Gesundheit etwas wert ist, der steckt schon heute dem Arzt vor einer größeren Operation - ganz privat - ein paar Scheine zu. Ohne lapowka (»Pfötchen«) läuft in polnischen Krankenhäusern seit der Wende nichts mehr.

Zwar geben die Polen offiziell mit 75 Euro pro Jahr etwa ein Zehntel des westeuropäischen Durchschnitts für das Gesundheitswesen aus. Nach Schätzungen zahlen die Patienten jedoch zusätzlich etwa eine Milliarde Euro pro Jahr an »informellen Gebühren« - so viel wie das gesamte staatliche Gesundheitsbudget.