Neue Volkszählung geplant

Daten auf Raten

Die rot-grüne Bundesregierung plant einen neuen Zensus. Statt wie 1987 die Bürger zu befragen, will man diesmal Behördendaten abgleichen.
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Es gab eine Zeit, da war Big Brother ein Symbol für die Horrorvision einer total überwachten Zukunft und nicht eine beliebte Fernsehsendung, in der sich Menschen freiwillig in einen Observationscontainer sperren lassen, um sich endgültig jeder Privatsphäre zu entledigen. 1983 wurde die geplante Volkszählung vom Bundesverfassungsgericht gestoppt. Als sie 1987 dennoch stattfand, gab es eine riesige Protestbewegung quer durch alle gesellschaftlichen Schichten - mit den Grünen an der Spitze. Eine der zahlreichen Parolen der damaligen Boykottkampagne lautete: »Meine Daten müsst ihr raten!« Heute sitzen die Grünen in der Bundesregierung und planen selbst eine Volkszählung. Der Gesetzentwurf liegt schon in der Schublade. Protest wird es wohl kaum geben.

Denn die Verantwortlichen haben aus den Achtzigern gelernt. »Aus Kosten- und Akzeptanzgründen« will man auf eine Bürgerbefragung wie 1987 verzichten. Damals zog eine halbe Million Interviewer von Haus zu Haus, was nicht verhindern konnte, dass massenhaft Bögen bewusst oder unbewusst falsch oder gar nicht ausgefüllt wurden.

Bei der nächsten - europaweiten - Volkszählung wird Deutschland einen neuen Weg einschlagen. Das Zauberwort heißt »registergestützter Zensus«. Gemeint ist damit ein Abgleich der Daten aus verschiedenen Behörden, was als ebenso zuverlässig gilt wie eine Befragung der einzelnen Bürger. Denn Bürger lügen, Behörden aber nicht. Neben dem Abgleich der Daten aus den Meldebehörden und der Bundesanstalt für Arbeit (BfA) sollen Gebäude- und Wohnungsgrunddaten bei allen Gebäudeeigentümern erfragt werden.

Die Methode des Registerabgleichs ist völlig neu. Nicht nur, dass das Sozialgesetzbuch geändert werden muss, um die BfA überhaupt zu legitimieren, Daten an die Statistischen Bundes- und Landesämter weiterzuleiten. Es gibt außerdem keine praktische Erfahrung bei der Bearbeitung derart gigantischer Datenmengen, die ohnehin erst durch standardisierte elektronische Datenverarbeitung in den Behörden möglich wird. Die Bundesregierung plant daher zunächst einen Testlauf, der etwa 1,5 Prozent der Bevölkerung erfassen wird. So sollen alle Meldebehörden zu bestimmten Stichtagen die Datensätze aller Einwohner herausrücken, die am 1. Januar, 15. Mai oder 1. September geboren sind oder deren Geburtsdatum unvollständig vorliegt.

Nachgeprüft werden sollen vor allem Fälle, in denen widersprüchliche Angaben auftauchen, so etwa, wenn jemand in mehreren Wohnungen gemeldet ist. Bei »unplausiblen Angaben aus den Melderegistern« wie diesen soll durch eine Befragung der betroffenen Personen ihr tatsächlicher Wohnort ermittelt werden. Man rechnet mit etwa zehn Prozent, bei denen eine persönliche Nachfrage notwendig wird. Außerdem werden in Stichproben bundesweit 38 000 Gebäude in 570 Gemeinden mit den Meldedaten verglichen.

Das Gesetz zur Durchführung dieser Testvolkszählung liegt bereits dem Bundesrat vor und soll dort nach Auskunft des Bundesinnenministeriums am 9. März beraten werden. Anschließend wird sich der Bundestag damit beschäftigen. Besonders pikant ist die Position der Grünen, die sich 1987 beim Volkszählungsboykott noch mächtig profiliert hatten. Der Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele, der eigenen Angaben zufolge seinerzeit über 100 Veranstaltungen gegen die Volkszählung durchführte, erklärte gegenüber Jungle World: »Eine Volkszählung so wie bei Christi Geburt ist falsch, überflüssig und gefährlich. Deshalb wird es ja auch keine Volkszählung geben.« Bei dem geplanten Zensus handele es sich nur um eine »statistische Erhebung«, nicht vergleichbar mit 1987. Auch für den innenpolitischen Sprecher der Grünen-Fraktion im Bundestag, Volker Beck, geht es in diesem Fall nicht um eine »echte Volkszählung«. Beck: »Bei dieser Volkszählung werden Karteikarten gezählt.«

Der stellvertretende Leiter des Unabhängigen Landeszentrums für Datenschutz in Schleswig-Holstein, Thilo Weichert, sieht ebenfalls keinen Grund, die Alarmglocken zu läuten. »Im Vergleich zu dem, was an anderen Stellen derzeit passiert, sind das Peanuts«, erklärt er. Schwachstelle der Volkszählung von 1987 seien vor allem die Erhebungsstellen in den Kommunen gewesen, wo die Daten von den Zählern zusammengetragen worden seien. Diesmal laufen die Daten jedoch bei den Statistischen Landesämtern zusammen, und es gebe keinen Grund, bei diesen ein Eigeninteresse an personifizierten Daten zu vermuten. Zudem sehe er - wenn man das so wolle - auch gar keine Möglichkeit zum Widerstand angesichts der staatlichen Methode.

Genau diese Methode einer heimlichen Volkszählung ist jedoch das, was skeptisch machen muss. Von Politikern und Statistikern wird ein Zensus mindestens alle zehn Jahre als erforderlich angesehen. Bisher wirkten der enorme Aufwand und die damit verbundenen hohen Kosten immer hemmend auf die Datengier der Behörden. Wenn durch die Digitalisierung der Datenerfassung ein Registerabgleich mit wenigen Knopfdrücken möglich wird, muss damit gerechnet werden, dass es wesentlich häufiger zu solchen Volkszählungen kommen wird. Warum eigentlich nicht jährlich?

Die Frage ist, ob die von der Regierung befürchtete Protestwelle gegen eine neue Volkszählung überhaupt kommen würde. Wahrscheinlich ist, dass auch dann, wenn die Bundesregierung wieder eine Befragung sämtlicher Bürger in Erwägung gezogen hätte, niemand auf die Straße gegangen wäre. Die Stimmung hat sich schließlich geändert. So findet beispielsweise die Videoüberwachung öffentlicher Räume in der Bevölkerung eher Zuspruch als Ablehnung.

Eine der möglichen Ursachen für diesen fundamentalen Stimmungsumschwung muss in einem veränderten Bedrohungsszenario begründet liegen. Die Angstbilder der Achtziger waren außerhalb der bundesdeutschen Gesellschaft angesiedelt: der böse Russe, der Atomkrieg, die Apokalypse. Nachdem sich diese Angstbilder aufgelöst haben, wurden in den Neunzigern neue Angstbilder erzeugt: Ausländer und die Organisierte Kriminalität. Feinde also, die innerhalb stehen, vor denen man sich ganz anders schützen muss und kann - durch Kontrolle und Denunziation. Außerdem ist der Hauptakteur der modernen Überwachung in den seltensten Fällen der Staat. Biometrische Systeme (Erkennung von Körpermerkmalen), Videoüberwachung, Datenspuren im Internet - Schrittmacher sind die Wirtschaft und die Konsumenten selbst.

Bei der Volkszählung jedoch ist der Staat wieder eindeutig der Akteur. Eckart Elsner, Direktor des Statistischen Landesamtes Berlin, bringt es auf den Punkt: »Ohne gute Zahlen kann man nicht gut regieren.« Er forderte kürzlich eine klassische Volksbefragung wie 1987 und bedauerte, dass die Bundesregierung eine solche Erhebung wegen des großen Widerstands damals scheue. Man müsse eben in der Bevölkerung dafür werben, warb Elsner. Voller Neid blicke er auf andere Länder, in denen »aussagekräftige Datenbanken« existierten. Wie etwa in China.