»Discographies« von Jeremy Gilbert und Ewan Pearson

Effekte für Dienstag

In »Discographies« versuchen die britischen Kulturwissenschaftler Jeremy Gilbert und Ewan Pearson, die Echos des Politischen in der Dance Music aufzupüren.

Was machen wir mit der Musik, fragte schon Immanuel Kant in die barocke Runde. Im Hintergrund lief Tafelmusik. Kant dachte nicht, was nicht zu denken ist: »What if music is sex!« Das war später - als der Wirbel von Techno und House taumelnde Körper produzierte. Denn mit Techno und House wird auch das No in Adorno akustisch gemacht. Nicht allein die Angst vor dem Begehren ausufernder akustischer Signale, auch die »Verunglimpfung ihrer Materialität« (Adorno) prägen den musikphilosophischen Stil der westlichen Kultur.

So sehen es die britischen Kulturwissenschaftler Jeremy Gilbert und Ewan Pearson. Eine wummernde Bass-Line ist keine Frage musikalischer Reflexion mehr, wie sie in »Discographies« anmerken, sondern eine Frage der Konstitution von Körpern. »Discographies« begibt sich auf die Suche nach der Artikulation des Politischen in der Dance Music: »Irgendwann hörte sich eine Platte einfach so seltsam an, dass es wie ein simulierter Trip war.« Das, so die Überlieferung der DJ-Ikone Marshall Jefferson, war Acid-House.

Mit dem Eindringen von Acid-House in die Ruinen des Thatcherismus bahnte sich eine Wende an. Das bis Ende der achtziger Jahre dominierende britische (Indie-) Rock-Modell samt seiner diskursiven Anschlüsse geriet in die Krise. Es ist nicht allein Acid House: 1988 verschoben zahlreiche Ereignisse die politisch-kulturellen Koordinaten Großbritanniens. Die britische Rave Culture gewann auch deshalb an Einfluss unter Jugendlichen, weil Arbeitslose unter 18 keine staatliche Hilfe mehr bekamen. Neue Räume und Praktiken entstanden, die sich nicht mehr in den Protestgesten von Rock repräsentieren ließen.

»Discographies« rekonstruiert den Abschied von einer Protestkultur, die über die Bedeutung von Sprache, Stimmen und darin vermittelte »Talking Heads« funktionierte. Gilbert und Pearson richten hingegen den Blick auf die Dynamik einer beginnenden Feminisierung der weißen heterosexuellen Lad Culture durch Rave sowie auf das entstehende Forschungsinteresse an Dance Culture. Und diese Auseinandersetzungen beginnen beschwerlich. Etwa in Sarah Thorntons Buch »Club Cultures«: »We go to the toilets. (...) Kate opens the capsule and divides the content. I put my share into my glass. I'm not a personal fan of drugs. I worry about my braincells. But they're a fact of this youth culture, so I submit myself to the experiment in the name of research.«

Aua! Das klingt nach Shell-Studie, ist aber Ausdruck der Übersetzungsarbeit der Cultural Studies, die versuchen, irreduziblen Soundereignissen und ihrer politischen Performanz eine Sprache zu geben. Auch Gilbert und Pearson fügen sich darin ungewollt ein und widmen sich den nicht vorhandenen »Technocredits« Jacques Derridas. »Deconstructing Music« heißt ihr Zauberwort, mit dem sie die Unterscheidung von musikalischen Affekten und Bedeutungen ad absurdum führen.

Dieser Techno-Dekonstruktivismus eröffnet den Blick auf die politische Figuration von Tanzpraktiken: Denn die besondere Performanz von Dance-Music in den historisch überlieferten Formen von Drag in US-Gay-House-Szenen, erfährt dadurch keine entpolitisierte ästhetizistische Huldigung. Vielmehr wird die besondere Sozialität von Dance-Music, die keine Kunstform ist, als eine Politik akustischer Räume beschrieben. In Chicago waren die Clubs afro-amerikanischer Homosexueller ein politischer Ort: »Disco und House mixten dabei das Profane, das Heraufbeschwören von Orgien und sexueller Maßlosigkeit, mit dem Spirituellen und der utopischen Sehnsucht nach einem ðbetter dayÐ, wenn ðwe will all be freeÐ.« All das kulminierte in Serien von Momentaufnahmen.

Die britische Rave Culture kokettierte anfänglich mit der Labour Party. Die puritanische Ausrichtung von Labour schloss aber weitere Berührungspunkte aus. Schließlich unterstützte Labour die Kriminalisierung des »Free Party Movement« und die Kampagnen gegen Ecstasy-Konsum, der schon 1977 verboten wurde. Für Gilbert und Pearson verdeutlicht diese gescheiterte Allianz von Rave Culture und Labour, dass Dance Culture keine eigenständigen politischen Anschlüsse herstellen konnte. Das Revival von Britishness mit Oasis und New Labour verlief hingegen problemlos. Gallagher und Co. besangen schließlich die Partitur der Realpolitik.

Rave-Kultur hat hingegen fragile, eher sprachlose »Communities without Unity« hervorgebracht, die produktive, aber allein tempörare Verwandlungen bestehender Machtverhältnisse erzielen. Darin verbirgt sich für Gilbert und Pearson ein gefährlicher Eskapismus. Die Wiedereinschreibung in eine dominante heterosexuelle Matrix hat die Umbrüche der britischen Ravekultur begleitet. Dass Dance-Music die gesellschaftlich produzierten Codes wie Gender und Sex aufbrechen konnte, hat sich im Zuge eines britischen Ibiza-Playboy-Begehrens aufgelöst, meinen die Autoren. Auch in Londoner 2-Step und Garage-Szenen ist der Club längst keine dissidente Fluchtburg mehr, in der Realpolitik akustisch suspendiert und das Politische neu erfunden wird.

Was passiert eigentlich Sonntagnachmittag? Welche Effekte des Wochenendes dringen in die Praktiken der diensttäglichen Abläufe ein? Sind es nur kleine Irritationen? Für Gilbert und Pearson sind die politischen Effekte der Rave Culture weitgehend unsichtbar. Apolitische Dissidenz als Strategie hat sich für Gilbert und Pearson endgültig überlebt. So sehr sie auch darauf insistieren, dass die Rave Kultur kollektive Aussage-Gefüge hervorgebracht habe, ihr Politikmodell bleibt bieder demokratisch.

Das verleitet sie, über demokratisch-kommunitaristische Politikmodelle in der Rave Culture zu sinnieren. In der berechtigten Hoffnug, dass im banalen One-World-Humanismus und -Exotismus der Rave-Culture ein progressiver Überschuss freigesetzt werden könnte, fordern sie eine Art Internationale der Raver. Es soll nicht länger durch die verdunkelten Sichtfenster der Clubs auf das realpoltische Geschehen geglotzt werden: Es gilt politische Interessen zu formulieren. In der temporär autonomen Zone des Clubs erübrigten sich schließlich Fragen nach Machtverhältnissen. Dann lieber doch Irvine Welshs Vorgabe aus »The Acid House«: »I think I'll stick to drugs to get me through the long dark night of late capitalism.«

Jeremy Gilbert/Ewan Pearson: Discographies: Dance Music, Culture And The Politics Of Sound. Rontledge 1999, 224 S., 20 Dollar