García Márquez' Reportagen

Traum und Irrtum

Der Militärputsch in Chile sei »ein Drama, das uns allen widerfahren ist und das für immer in unserem Leben bleiben wird«, schrieb Gabriel García Márquez 1974. Wenig später erklärte er, so lange nicht mehr zu schreiben, bis Pinochet zurückgetreten sei, und tatsächlich erschien seine »Chronik eines angekündigten Todes« erst 1981.

Natürlich stellte der kolumbianische Schriftsteller das Schreiben nicht ein. Er wechselte das Genre und verfasste Reportagen, die nun unter dem deutschen Titel »Frei sein und unabhängig« als vierter Band seiner journalistischen Arbeiten vorliegen. Es macht den Reiz dieser Reportagen aus, dass sie durch keine rückblickende Reflexion gebrochen sind.

Lesend erleben wir den Enthusiasmus der Nelkenrevolution in Portugal, den untergründigen Widerstand gegen Pinochet, die Besetzung des Nationalpalastes in Managua durch ein Kommando der Sandinisten. Wir erschaudern angesichts des Schwindel erregenden Optimismus des Montonero-Führers Mario Firmenich, der García Márquez - »10 000 Meter über dem Meer« und ein Jahr nach dem Putsch in Argentinien - erklärt, die Militärs seien am Ende, da es ihnen im ersten Jahr nicht gelungen sei, mehr als 1 500 Gegner zu töten. Wir hören von General Torrijos, einer »Kreuzung aus Maultier und Jaguar«, der den USA die Rückgabe des Panama-Kanals abtrotzte, und von Rodolfo Walsh, dem Journalisten der Prensa Latina, der die Vorbereitungen für die Invasion in der Schweinebucht enttarnte und 1977 seine Anklage des argentinischen Militärregimes mit dem Leben bezahlte.

Es ist eine Welt, deren Gravitationszentrum die kubanische Revolution bildet und deren Grenzen durch jeden Befreiungskampf neu definiert werden. Ihre Symbolfigur ist »der fahrende Ritter der Revolution«, Che Guevara. Der Band versammelt die hoch fliegenden Träume, die verheerenden Niederlagen und die grotesken Irrtümer der Linken in den siebziger Jahren. García Márquez hat sie alle geteilt. In der schönsten Episode des Buches erzählt er rückblickend, wie er in Venezuela, dem damals »freiesten Land der Welt«, das sich gerade der Militärdiktatur entledigt hat, vom Sturz des kubanischen Diktators Batista erfährt. Als die Revolutionsregierung eine Pressedelegation nach Kuba einlädt, eilt García Márquez Hals über Kopf zum Flughafen. An Bord stellt sich heraus, dass es mehr Journalisten als Sitzplätze gibt. Der zaudernde Kapitän wird schließlich mit dem schlagenden Argument zum Abflug genötigt, dass auch die Granma überladen gewesen sei.

Die Welt ist seither eine andere geworden. Heute wissen wir, dass Edén Pastora, der berühmte Comandante Zero der Besetzung des Nationalpalastes in Nicaragua, später zur Contra wechselte, Firmenich aus dem Gefängnis einen Brief an den Papst schrieb - »Vater, wir haben gesündigt« -, dass Angola die Tragödie eines nicht enden wollenden Bürgerkriegs erleidet und Kuba seine revolutionäre Unschuld verloren hat. García Márquez' Reportagen sind eine Fundgrube für die Archäologie der Linken im 20. Jahrhundert.

Gabriel García Márquez: Frei sein und unabhängig. Journalistische Arbeiten 1974-1995. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2000, 340 S., DM 45