EU-Beitrittsverhandlungen

Ungern in Ungarn

Wegen ihrer Verdienste um die deutsche Vereinigung hofft die ungarische Regierung auf besondere Hilfe Berlins bei den EU-Beitrittsverhandlungen.

Auch außerhalb der EU gibt es noch ein Leben«, lautet ein viel zitierter Ausspruch Viktor Orbáns, des ungarischen Ministerpräsidenten von der rechtskonservativen Partei Fidesz-MPP (Jungliberale-Ungarische Bürgerliche Partei). In Ungarn selbst zeichnet sich allerdings ein anderes Bild ab. Die Regierung pocht auf die Bekanntgabe eines genauen Termins zum EU-Beitritt, in Brüssel aber hält man sich weiterhin bedeckt.

Die neuen Mitgliedsländer könnten zu einem Zeitpunkt beitreten, der ihnen die Teilnahme an den Wahlen zum Europa-Parlament im Sommer 2004 ermöglicht, verkündete etwa EU-Kommissar Günter Verheugen im Januar. Einschränkend fügte er hinzu, dass natürlich zuerst alle Beitrittskriterien erfüllt sein müssen.

Die Süddeutsche Zeitung hatte es im Dezember anders formuliert: »Ob die guten Schüler 2004 tatsächlich in die EU versetzt werden, hängt auch davon ab, ob die ðWegskizzeÐ in Nizza abgesegnet wird.« Mit der »Wegskizze« ist die »nun beginnende schwierige Phase« der Verhandlungen gemeint.

Eines jedenfalls ist klar: Die Ungarn wollen gute Schüler sein, die erforderlichen Beitrittsvoraussetzungen müssten sie dann bis Ende 2002 erfüllt haben. Damit hat sich das Land einen straffen Zeitplan gesetzt, denn für viele Bereiche fordern die EU-Funktionäre weitreichende und kostspielige Veränderungen. Beim Umweltschutz betrifft dies beispielsweise die Anpassung der nationalen Gesetze an EU-Standards sowie die Richtlinien zu Abfallentsorgung, Kanalisation und Abwasseraufbereitung.

Die EU fordert außerdem, die Lebenssituation der Minderheiten in Ungarn, vor allem der ungefähr 800 000 Roma, zu verbessern. Die Roma haben keinen Anspruch auf eine garantierte parlamentarische Vertretung, wie für Minderheiten in anderen Ländern üblich, ihre wirtschaftliche und soziale Lage ist miserabel. Jeder neunte ist arbeitslos, in der ungarischen Gesellschaft sind sie marginalisiert. Schon seit Jahren kommt es immer wieder zu gewaltsamen Übergriffen von Skinheads.

Die Sorge der EU-Administration um diese Bevölkerungsgruppe entspringt jedoch nicht etwa großherzigem Mitgefühl, sondern der Befürchtung, die Roma könnten nach Westeuropa kommen, sobald Ungarn der EU beigetreten ist. Ungarn versucht nun, im Bildungsbereich die Roma zu fördern. Dass dies eine sehr langfristige Strategie ist, liegt auf der Hand. Den Erwachsenen ist damit nicht geholfen.

Die Funktionäre in Brüssel wollen allerdings nicht nur keine Roma in Westeuropa haben, sondern auch die ungarischen ArbeitnehmerInnen sind ihnen nicht willkommen. Bundeskanzler Gerhard Schröder schlug eine Übergangszeit von sieben Jahren vor, in denen es Ungarn verboten sein soll, zur Arbeit in die anderen EU-Länder zu ziehen.

Kein Wunder, dass die Forderung in Ungarn auf Kritik stößt. »Sollten Ungarn an der Ansiedlung anderswo in der EU gehindert werden, schränkt das auch die Freizügigkeit des Kapitals, der Waren und der Dienstleistungen ein«, warnte im Januar etwa die deutschsprachige Zeitung Neue Pester Lloyd. Das wird Ungarn allerdings nicht viel nützen, denn die Bedingungen werden einseitig diktiert.

Schwierigkeiten bereiten auch die rund drei Millionen Ungarn, die in der Slowakei, der Ukraine, in Rumänien und Serbien leben. Bislang konnten sie problemlos nach Ungarn einreisen. Nach dem EU-Beitritt wäre damit Schluss.

Die Ungarn außerhalb der Staatsgrenzen bräuchten dann - wie alle Osteuropäer aus Nicht-EU-Ländern - ein schwer zu beschaffendes und teures Visum. Sowohl in der Bevölkerung als auch auf politischer Ebene regt sich Widerstand dagegen, dass die, die »draußen« leben, ausgeschlossen werden sollen. Für diesen besonderen Fall sollen nun Sonderregelungen getroffen werden.

Zweifelhaft sind auch die Aussichten der Forderungen nach einer Übergangsfrist von zehn Jahren für den Landerwerb durch Nicht-Ungarn. »Befürchtet wird, dass fruchtbares Ackerland von Ausländern aufgekauft und ungarische Bauern ðenteignetÐ werden«, heißt es dazu in der Budapester Zeitung. Für die ungarische Bevölkerung würden die Preise damit unerschwinglich werden.

Die große Mehrheit der Ungarn ist dennoch für den EU-Beitritt: 70 Prozent sprachen sich bei den letzten Umfragen in diesem Sinne aus. Die Befürworter träumen vor allem von den Geldern, die fließen sollen, um strukturschwache Regionen zu unterstützen. Und als »strukturschwach« kann alles bezeichnet werden, was nicht in Westungarn oder Budapest liegt.

Allerdings ist die Stimmung auch geprägt von einem resignativen Pragmatismus. »Was bleibt uns denn anderes übrig als beizutreten? Draußen bleiben ist schlimmer«, heißt die übliche Antwort aus der Bevölkerung. In die gleiche Richtung geht auch der Ausspruch von Viktor Orbán, dass es aus der Sicht Ungarns nicht um die Aufnahme in die EU gehe, sondern um eine politische Integration in Europa. Für Ungarn sei es in der Vergangenheit immer von Nachteil gewesen, sich von Europa zu distanzieren, und von Vorteil, sich Europa zuzuwenden, ressümiert Orbán.

Diese Einschätzung teilen mittlerweile alle Parteien des ungarischen Parlaments. Im vergangenen Herbst unterzeichneten sie ein Papier, in dem sie sich verpflichteten, gemeinsam an einem EU-Beitritt zu arbeiten. Diese Einigkeit ist auch notwendig, da viele Gesetzesänderungen zur Anpassung an das EU-Recht einer Zweidrittelmehrheit bedürfen.

Vernehmbare Kritik kam bisher nur von den Nationalisten. Die rechtsradikale Partei MIEP (Ungarische Partei des Lebens und der Gerechtigkeit) warnte davor, die nationalen Interessen zu übergehen und das Land an Ungarn zu verkaufen.

Vielleicht bleibt es aber trotz der vereinten Bemühungen bei der Prognose, dass Ungarn erst in vier oder fünf Jahren der EU beitreten kann. Da nützt es wenig, dass die Regierung sich auf das besondere deutsch-ungarische Verhältnis beruft. Als Dankeschön aus Deutschland wegen der Öffnung der ungarischen Grenze für DDR-Bürger 1989 wünscht sie sich, dass ihr Land schneller als die anderen möglichen Beitrittsländer aufgenommen wird.

Der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber weiß um die Rolle Ungarns bei der deutschen Vereinigung und forderte vor zwei Wochen nach dem so genannten Donau-Gipfel, Ungarn als erstes Land in die erweiterte EU aufzunehmen. Das Land habe schließlich viel für Europa geleistet, so seine Begründung. Und besonders für Deutschland.