Ökonomische Krise in Georgien

Saufen oder ab ins Bett

Die georgische Regierung laviert zwischen Russland und dem Westen, während Wirtschaft und Infrastruktur verfallen.

An irgendeinem Rand befindet sich Georgien immer. Jahrhundertelang war die Kaukasusrepublik der östliche Vorposten des Christentums. Und in wenigen Jahren hofft Staatspräsident Eduard Schewardnadse sein Land an den Rand der ost-erweiterten Europäischen Union gebracht zu haben. Derzeit sind es allerdings andere Ränder, die relevant sind für die Lebensbedingungen im Land: Die Nachbarschaft zu Tschetschenien und das gespannte Verhältnis zu Russland bestimmen die Tagespolitik und auch den Alltag.

Die Möglichkeiten, eine von Moskau unabhängige Politik zu betreiben, sind extrem begrenzt. Ein Großteil der Gaslieferungen nach Georgien hängt vom Gutdünken der russischen Führung ab, und Russland ist immer noch der wichtigste Handelspartner. Der 1999 in einem OSZE-Vertrag vereinbarte russische Truppenabzug ist nicht vollständig erfolgt, und im vergangenen Herbst warfen russische Medien und Politiker der georgischen Regierung eine Unterstützung der tschetschenischen Rebellen vor. Die russische Drohung, gegen angebliche Rebellencamps in Georgien militärisch vorzugehen, wurde allerdings dank der Vermittlung der OSZE und der Entsendung einer Beobachtertruppe schließlich nicht wahr gemacht.

Pünktlich vor Weihnachten untersagte der Kreml einem Moskauer Zwischenhändler der Firma Itera dann die Erfüllung der Lieferverträge mit georgischen Kraftwerken. In Georgien fiel der Strom noch öfter aus als zuvor, es fanden Demonstrationen statt, bei denen manchmal auch Barrikaden brannten. Wegen der diffusen Sicherheitslage empfehlen die Botschaften der USA und Großbritanniens ihren Staatsbürgern mittlerweile, nach 18 Uhr nicht mehr aus dem Haus zu gehen.

Georgien verbindet Aserbaidschan, das Kaspische Meer und dessen Ölfördergebiete mit dem Schwarzen Meer und der Türkei. Russland hat ein großes Interesse, seinen Einfluss auf Georgien zu erhalten, ist jedoch als Wirtschaftspartner wenig attraktiv und kann nur durch Ausnutzung bestehender Abhängigkeiten und mit angedrohter oder tatsächlicher Gewalt seine Position behaupten. Die Verflechtungen mit Russland machen die georgische Wirtschaft extrem krisenanfällig. Vor allem wegen der russischen Finanzkrise ging nach Berechnungen der britischen Economist Intelligence Unit das Wirtschaftswachstum von 11,3 Prozent 1997 auf 2,9 Prozent 1998 zurück.

Während Georgien als Sowjetrepublik relativ wohlhabend war, sank der Lebensstandard in den zehn Jahren seit der Unabhängigkeitserklärung drastisch. Vor allem in ländlichen Gegenden leben die Menschen in prekären Verhältnissen. Die Armut, so Schewardnadse, sei kein zu hoher Preis für die Unabhängigkeit. »Die Menschen wollten lieber Gras essen, aber in Freiheit leben«, gab er am 1. Oktober 2000 in einer ARD-Talkshow bekannt. Im November warnten die Vereinten Nationen sogar vor einer Hungerkatastrophe. Knapp 59 Prozent der Bevölkerung Georgiens lebten unter der Armutsgrenze, fast 15 Prozent der knapp fünf Millionen Einwohner hätten so gut wie keine Nahrung. Die bisherigen Erfahrungen mit marktwirtschaftlichen Strukturen sind eher solche der Ohnmacht und Verelendung als der Teilnahme an funktionierenden Märkten.

Frieren und im Dunkeln sitzen mussten vor zehn Jahren die wenigsten. Gas- und Wasserversorgung werden schlechter, das Fernwärmenetz ist zusammengebrochen. Im Winter erhält der Besucher von seinen Gastgebern den Rat, sich zwischen den verbleibenden Alternativen »Saufen oder ins Bett« zu entscheiden. Seit über zehn Jahren verfallen an jeder Straßenecke die Symbole einstmaliger Pracht. Der Vergnügungspark auf dem Hausberg der Hauptstadt Tiflis ist leblos, seitdem die Seilbahnen still stehen, und das Casino nur noch eine fensterlose Ruine. Im Hotel Iberia leben seit Jahren Flüchtlinge. Die Weinberge in Kachetien verwildern. Die Kurstadt Borjomi hängt am Entwicklungshilfe-Tropf, man findet dort zwar Heilquellen, nicht aber die Züge nach Moskau, Baku und Odessa, die auf einem alten Fahrplan im Bahnhof noch angekündigt werden.

Die Ende der achtziger Jahre entstandene nationale Oppositionsbewegung hatte sich bald in rivalisierende Fraktionen gespalten. Eduard Schewardnadse, damals sowjetischer Außenminister und zuvor KP-Chef von Georgien, versuchte, zwischen den Fraktionen zu vermitteln. Swiad Gamsachurdia wurde am 26. Mai 1991 zum ersten Staatspräsidenten gewählt, nachdem sich in einem Referendum 99 Prozent der Georgier für die Unabhängigkeit ausgesprochen hatten. Bei der russischen Führung war Gamsachurdia wegen seiner Sezessionspolitik unbeliebt, die Folge war ein Wirtschaftsboykott. In Georgien verlor er wegen seines diktatorischen Regierungsstils die Unterstützung der Bevölkerung und seiner politischen Verbündeten. Im Winter 1991/92 eskalierten die paramilitärischen Auseinandersetzungen mit der Opposition, Gamsachurdia floh ins Ausland. Die Übergangsregierung erwog kurzzeitig die Wiedereinführung der Monarchie, entschied sich dann aber für Schewardnadse.

Das Land befand sich kurz vor dem Zerfall. Gamsachurdia unterstützte die Sezessionsbestrebungen in der Region Abchasien an der russischen Grenze. Nach zwei Jahren Bürgerkrieg gab Schewardnadse Abchasien verloren. Mit den georgischen Truppen verließen Tausende Abchasien, sie leben seitdem als Flüchtlinge über das ganze Land verteilt. Georgien musste den Einfluss Russlands, das die abchasischen Separatisten unterstützte, akzeptieren. Schewardnadse stimmte 1993 dem Eintritt in die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) zu und erlaubte die Stationierung russischer Truppen. Von da an verlor der abchasische Widerstand seine Kampfkraft.

Über Abchasien versucht die russische Regierung noch immer, Einfluss auf Georgien zu nehmen. Anfang Dezember führte Russland einen Visazwang für Georgier ein, nahm Abchasen jedoch von dieser Regelung aus - eine Schikane aus Sicht der georgischen Machthaber. Die Abspaltung Georgiens von Russland ist allerdings kaum revidierbar. Viele Georgier hegen ein tiefes Misstrauen gegen Russen, manche glauben sogar, dass ein Erdbeben im Dezember von geheimen russischen Sprengungen ausgelöst wurde.

Nachdem Gamsachurdia unter nie geklärten Umständen ums Leben gekommen war, konnte Schewardnadse Anfang 1994 seine Herrschaft einigermaßen stabilisieren. Die Machtverhältnisse aber sind bis heute unklar und von Region zu Region verschieden. Die georgisch-orthodoxe Kirche ist die einzige Organisation, die massenhaften Zulauf hat und noch dazu Finanzmittel mobilisieren kann. Während die Infrastruktur vor sich hin modert, werden im ganzen Land die Kirchen wieder aufgebaut; die Priester verbreiten eine krude Mischung aus Nationalstolz und Glauben. In den Provinzen regieren lokale Machthaber zum Teil auf eigene Faust, und auch in Südossetien und Adscharien gibt es Sezessionsbestrebungen.

Die meisten Georgier akzeptieren Schewardnadse, weil er als Garant eines wackeligen Friedens gilt. Er ist aber auch verantwortlich für eine Verwaltung, die von vielen nur noch die Mafia genannt wird, und versorgt seine Verwandtschaft mit lukrativen Posten. Das Handynetz beispielsweise gehört Gia Dschochtaberidse, seinem Schwiegersohn, sein Neffe Nugzar Schewardnadse ist im Ölgeschäft tätig.

Um als Staatsangestellter nicht korrupt zu werden, ist allerdings auch eine besondere Askese erforderlich. 40 Lari (umgerechnet etwa 40 Mark) errechnet die Weltbank als Mindesteinkommen, das ein Überleben gerade noch ermöglicht. Trozudem müssen sich Rentner mit elf bis 14 Lari begnügen. Minister verdienen, je nach Ressort, 150 bis 200, ein Universitätsprofessor 35 Lari. Einfache Polizisten holen sich ihr Gehalt auf der Straße. Verkehrssünder zahlen drei bis fünf Lari, ausländische mehr. Glück hat, wer bei ausländischen Firmen oder Organisationen angestellt ist, denn dann wird das Gehalt regelmäßig in bar und vor allem in US-Dollar ausgezahlt.

Ohne den Internationalen Währungsfonds (IWF), der im Januar neue Kredite bewilligte, wäre der georgische Staat schon lange bankrott. Eines der Hauptprobleme neben der allgegenwärtigen Korruption ist, ähnlich wie in Russland, die Schwierigkeit, Steuereinnahmen zu erzielen. Kontrollen sind sinnlos, wenn kaum jemand ein Bankkonto benutzt und die offizielle Währung von der Dollarisierung im Alltag geschwächt ist.

Der Bau einer Ölpipeline von Baku in Aserbaidschan über Georgien bis an das türkische Mittelmeer soll den wirtschaftlichen Niedergang stoppen. Doch das von den westlichen Staaten befürwortete Projekt wird von der russischen Führung als Affront betrachtet, da es ihren Einfluss auf den Kaukasus und Mittelasien schwächen würde.

Die Europäische Union und die Nato sind bislang eher auf leisen Sohlen aktiv. Georgien ist Mitglied des Nato-Programms »Partnerschaft für den Frieden«. Offizieren der georgischen Armee wird beispielsweise Deutsch beigebracht, im Juni soll ein Nato-Manöver in Westgeorgien stattfinden. Die außenpolitischen Repräsentanten der EU, Javier Solana und Chris Patten, erklärten während einer Reise durch den Kaukasus im Februar zwar das generelle Interesse der EU an einem Beitritt Georgiens und Aserbaidschans, vorher müssten aber die Konflikte in der Region beigelegt werden.

Das dürfte noch eine Weile dauern, und auch in ökonomischer Hinsicht ist Georgien vom Status eines »emerging market« und EU-Beitrittskandidaten noch weit entfernt.