Frank Goosens Roman »Liegen lernen«

Wie im Kaufhaus

In Frank Goosens Poproman »Liegen lernen« läuft die Musik nur im Hintergrund.

Nicht ganz einfach, diesem Debütroman von Frank Goosen, dem mehrfach preisgekrönten Kabarettisten und »Tresenleser«, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Denn zuallererst ist »Liegen lernen« ein schamloses Plagiat. Der Roman erinnere »stark an die Bücher Nick Hornbys. Wie der Brite bedient sich auch Goosen eines schnörkellos-lakonischen und dennoch herzlichen Tonfalls ohne aufgesetzte Coolness«, schreibt ein unbedarfter Thomas Brussig im Spiegel und laudiert ansonsten, was er kann, weil er in Goosen einen brother in art zu erkennen glaubt, einen Autor, der nicht in erster Linie »einen literarischen Anspielungskosmos zu beherrschen« trachtet, wie so »viele westdeutsche Autoren meiner Generation«, sondern vielmehr »Erfahrungen weiterzugeben« hat.

Immerhin, Brussig ahnt schon was. Aber es sind nicht »die Bücher«, es ist ein Buch, »High Fidelity« nämlich, das für Goosen nicht nur Vorbild, sondern streckenweise auch Schreibfolie war. Die Analogien sind schlagend. Wie Hornbys Ich-Erzähler Rob Fleming strukturiert Goosens Helmut sein Leben im narrativen Nachvollzug durch die einzelnen Beziehungen, die es ihm einbrachte. Fleming darf sich an fünf Frauen versuchen, bevor er schließlich seine Laura kennen lernt, auch von ihr verlassen wird, bis beide schließlich irgendwie geläutert aus dieser Krise hervorgehen und dauerhaft zusammenbleiben. Helmut durchlebt nur vier Beziehungen, und zwar - ein ganz hübscher Einfall - in akkurater alphabetischer Ordnung (Britta, Gisela, Gloria, Roberta), bis er dann an Tina gerät, die nämliche Krise durchmacht, geläutert aus ihr hervorgeht, um am Ende dauerhaft ...

Selbst das bereits bei Hornby eher abwegige Motiv, den Helden noch einmal die einstigen Eroberungen abklappern zu lassen, lässt Goosen nicht aus. Hinzu kommt die, wie sogar Brussig bemerkt, bei Hornby abgelauschte kolloquiale Diktion, dieses geplauderte, quasi-mündliche Parlando; hinzu kommen auch noch starke Ähnlichkeiten der weiblichen Charaktere, und selbst die beiden männlichen Hauptfiguren würden sich wunderbar verstehen, wenn sie sich zufällig in einer Kneipe träfen - bzw. auch gerade nicht, weil ihnen das melancholische Loser-Lamento und die Triebfixiertheit des jeweils anderen allzu bekannt vorkommen würden. Wobei man sich so einen Typ wohl doch eher als abgebrochenen Studenten und Inhaber eines Second-Hand-Plattenladens vorstellen kann denn als promovierten Historiker mit BAT 2A, wie es uns Goosen weismachen will. Aber das sind Kleinigkeiten.

Viel schwerer wiegt da eine andere, offenbar genauso kalkulierte, aber nicht wirklich umgesetzte Reprise - auch »Liegen lernen« will ja ein »mit viel Musik orchestrierter Roman« (Klappentext) sein. Während es Hornby versteht, nicht zuletzt unter Aufbietung von Spezialwissen, die popmusikalische Obsession seines Helden sinnfällig zu machen, die ganze obskure Welt des Addicts anschaulich zu vergegenwärtigen, bleibt die Musik hier völlig im Hintergrund - undeutlich und verschwommen wie im Kaufhaus. Das liegt vor allem daran, dass Goosen nicht sehr expressiv über Musik zu schreiben vermag: »Manchmal saß ich mitten in der Nacht neben meiner alten Kompaktanlage und hörte 'Nebraska'. Manchmal 'Nights in White Satin', aber nur, wenn ich etwas getrunken hatte. Wenn ich wütend war, hörte ich 'Jumping Jack Flash', also das Übliche.«

Helmut, dieser vermeintliche Fan, hat einen so hausbackenen Mainstreamgeschmack, dass die beanspruchte Kennerschaft damit einfach nicht harmonieren will: Bob Dylan, Beatles, Rolling Stones, Bruce Springsteen, Joan Baez, Eagles, Barclay James Harvest werden da weggehört. Das Übliche, fürwahr. Kein New Wave, von der New Wave Of British Heavy Metal gar nicht zu reden, kein Post Punk, nichts von der Rockabilly-Renaissance, nicht mal die Neue Deutsche Welle kommen hier vor - er hört fast ausschließlich Rock-, Country- und Folk-Traditionals. Daraus ließe sich vielleicht ein schöner Soundtrack für die Sechziger und Siebziger zuammenstellen - aber Goosen hat sich nun einmal die Achtziger vorgenommen.

Und damit sind wir schon beim nächsten, beim letzten Monitum. Der Roman ist nun nicht gerade »gekettet an Daten & Fakten« (Arno Schmidt), sondern nähert sich den Zeitläuften eher atmosphärisch. Stochert im Nebel, könnte man auch sagen: »Die Achtziger waren besonders um die Mitte herum und gegen Ende finster, und die Sommer waren schlecht, aber ich lernte in ihnen das Zusammenleben und das Ficken, das Liebsein und Lügen. Mann kann es sich eben nicht aussuchen.« So eben!

Kurzum, das Setting hätte durchaus etwas dichter, die alltagskulturelle Staffage detailgenauer sein können. Goosen bringt das an hard facts, was einem eben gerade noch einfällt, wenn man mal eine Weile, aber nicht zu lange, nachsinnt: die obligate Lederkrawatte, die bis zum Ellenbogen hochgeschobenen Jackett-Ärmel, Polohemden, Leggings, Kohl, Boy George, Soko 5113 und schließlich the one and only Mauerfall. Und immer regiert das Prinzip der Aufzählung, werden diese Geschichtspartikel nur selten einmal wirklich erzählerisch integriert.

Und dennoch - es ist nicht einfach, die Kurve zu kriegen - hat Frank Goosen einen ganz wundervollen Roman geschrieben. Der sentimental ist, ohne peinlich zu sein, der trotz seiner Einfachheit und Alltäglichkeit spannend ist und anrührend, dem es gelingt, die Freuden und Leiden der sexuellen Initiation in den Achtzigern, die Melancholie und Tristesse und Apathie dieser Jahre in einer Wahrhaftigkeit abzubilden, dass einem Leser, dessen Adoleszenz ebenfalls in diese Zeit fiel, ganz warm ums Herz wird, weil er gar nicht anders kann, als sich ganz naiv zu identifizieren und einfach nur zu identifizieren.

Vielleicht wirkt »Liegen lernen« wirklich nur auf die Mitte der sechziger Jahre Geborenen so suggestiv, weil sie an der angespielten Erfahrungswelt teilhatten. Aber, wer weiß, vielleicht lässt sich ja auch tatsächlich ein heute Zwanzigjähriger von dem Roman affizieren? Das müsste man mal herauszubekommen versuchen, weil dieser Frage für eine abschließende ästhetische Beurteilung doch einige Relevanz zukommt. Im ersten Fall hätte man hier bloß einen hübschen Generationenroman, oder wie immer man das nennen will, im zweiten ein artifizielles und gelungenes Stück realistischer Prosa.

Frank Goosen: Liegen lernen. Eichborn Verlag, Frankfurt/M., 299 S., DM 39,80