Vergangenheitsdebatte in Polen

Antisemitische Nachbarn

Ein Buch über das Pogrom in Jedwabne löst in Polen eine Debatte über historische Verantwortung aus.

Am 10. Juli 1941, drei Wochen nach dem Einmarsch der Deutschen in den sowjetisch besetzten Teil Polens, verbrannten in der Kleinstadt Jedwabne christliche Polen ihre jüdischen Nachbarn bei lebendigem Leib in einer Scheune. Rund 1 600 Frauen, Kinder und Männer kamen ums Leben - über die Hälfte der Einwohner Jedwabnes und bis auf sieben Überlebende die gesamte jüdische Bevölkerung.

Dies hat der amerikanische Soziologe und Historiker Jan T. Gross nach vierjähriger Recherche in Archiven und durch Zeitzeugenbefragungen in seinem im letzten Jahr erschienenen Buch mit dem lakonischen Titel »Nachbarn« festgehalten und damit in Polen eine Debatte um Kollaboration, Schuld und Verantwortung ausgelöst.

Das Pogrom ging von den örtlichen Honoratioren aus und fand große Unterstützung unter der katholischen Bevölkerung der Stadt und den Bauern aus der Umgebung. Es wurde nicht von anwesenden Wehrmachtsangehörigen befohlen, wie es die bisherige offizielle Geschichtsschreibung in Polen behauptet hatte. Die Deutschen beschränkten sich darauf, das Massaker im Film festzuhalten.

Während die Wehrmacht im Sommer 1941 den zuvor von der Roten Armee beherrschten Teil Polens besetzte, kam es zu einer ganzen Serie von Pogromen. Meist waren die Täter Ukrainer oder Balten, die mit oder ohne Unterstützung der deutschen Besatzer und der ortsansässigen deutschen Bevölkerung handelten.

Der antisemitische Vorwurf lautete stets, die Juden kollaborierten mit den Sowjets. Tatsächlich wurde die Rote Armee beim Einmarsch im Herbst 1939 zunächst von vielen Juden begrüßt. Sie hofften auf das Ende der Diskriminierung, die die polnische Regierung ab 1935 mit dem Ziel, die jüdische Bevölkerung durch die Emigration zu verkleinern, rigoros durchführte. So waren Juden unter anderem vom Staatsdienst und aus bestimmten Wirtschaftszweigen ausgeschlossen.

Sozialisten und Liberale hingegen unterstützten den Kampf der Juden um ihre Bürgerrechte und verurteilten den herrschenden Antisemitismus. Daher schlossen sich Juden auch vor allem linken konfessionsunabhängigen Organisationen an.

Im Mai 1949 wurden 21 Beteiligte des Jedwabner Pogroms angeklagt; einer wurde hingerichtet, elf weitere wurden zu Haftstrafen verurteilt. Über diese juristische Aufarbeitung hinaus fand jedoch keine öffentliche Debatte statt. Der Prozess wurde in keiner größeren Zeitung erwähnt und das Pogrom verschwiegen, es passte nicht ins Bild des heldenhaften antifaschistischen Widerstands des polnischen Volks.

In den sechziger Jahren wurde ein Denkmal aufgestellt, welches das Pogrom zur deutschen Tat erklärte. In einem neuen Gerichtsprozess wurde ein deutsches Polizeibataillon für das Massaker verantwortlich gemacht. Gross weist in seinem Buch jedoch nach, dass es Jedwabne zur Tatzeit bereits verlassen hatte.

Damit hat Gross in Polen reichlich provoziert. Beschränkte sich die Diskussion in den Feuilletons zunächst auf Zahlen und Fakten, so führte sie mittlerweile zu einem politischen und moralischen Streit. Vor allem die Ankündigung des Präsidenten Aleksander Kwásniewski, sich im Juli anlässlich des 60. Jahrestages des Verbrechens im Namen des polnischen Volkes zu entschuldigen, löste empörte Reaktionen aus.

In der Öffentlichkeit ist man sich einig, dass es zwar Polen waren, die den Mord durchführten. Doch es seien eben nur einige wenige Kriminelle gewesen. Mit dem Verweis auf die Rettung vieler Juden durch polnische Familien wird versucht, die Frage der Schuld auf Individuen zu verlagern. Man schämt sich für die Taten der Landsleute und erkennt unter Schmerzen ihre Schuld an. Doch damit auch genug.

Nach Meinung der national-katholischen Ikone Primas Józef Glemp sowie des Premierministers Jerzy Buzek und des intellektuellen Solidarnosc-Kämpfers Adam Michnik kann die Verantwortung für den Mord nicht dem polnischen Volk angelastet werden. Gerne übt man sich in Relativierung und traditionellen Erklärungsversuchen.

So schreibt Michnik in der Tageszeitung Gazeta Wyborcza, es habe nicht nur in Polen solche Ausschreitungen gegeben, sondern in vielen Ländern Osteuropas. Der Hauptschuldige ist dann schnell ausgemacht: die sowjetischen Besatzer und der NKWD, mit dem die jüdische Bevölkerung angeblich zusammenarbeitete und der zahllose Polen deportieren und ermorden ließ.

Nach den Recherchen von Gross war jedoch nur ein einziger jüdischer Bewohner von Jedwabne als Mitarbeiter des NKWD registriert. Präsident Kwásniewski sprach sich in einem Interview mit der israelischen Zeitung Jedijot Achronot dagegen aus, das Pogrom als Reaktion auf die Machenschaften des sowjetischen Geheimdienstes zu erklären. Doch solche Stimmen werden in Polen kaum wahrgenommen. So nimmt beispielsweise der Priester von Jedwabne seine Schäfchen, die alle von der Mordaktion wissen oder sogar an ihr beteiligt waren, vehement in Schutz und fordert sie gleichzeitig auf, über die Vorfälle zu schweigen.

Die Angst geht um in diesem kleinen Ort, die Angst vor Verleumdungen durch »die ausländische Presse und die jüdischen Organisationen«. Einige Bürger gründeten einen Verein zum Schutz des guten Namens der Stadt und schickten einen offenen, aber anonymen Brief an die polnische Regierung, in dem sie sich gegen eine kollektive Verantwortung zur Wehr setzten.

In erster Linie um das Ansehen im Ausland geht es offensichtlich auch den politisch Verantwortlichen. Denn in der Debatte bleibt die Frage nach dem Antisemitismus in der polnischen Gesellschaft und seinen Ursachen fast gänzlich unberührt, während mit Ausdauer über Schuld und Unschuld philosophiert wird.

Aufgerufen wird zum polnisch-jüdischen Dialog, zu Toleranz und Verständigung, nur wie die sich gestalten soll, ist weiterhin umstritten. Primas Glemp zumindest weiß, was er will, und stimmte daher aus vollem Herzen dem Vorschlag der Jüdischen Gemeinde in Warschau zu, gemeinsam für die Opfer zu beten. Er fügte hinzu, dieser Anlass könne auch dazu dienen, die Trauer und den Schmerz über die »menschlichen Tragödien in Jedwabne, Katyn und Auschwitz, aber auch in Ruanda, auf dem Balkan und zwischen den Nachbarn in Palästina« auszudrücken.

Von offizieller Seite werden andere Zeichen gesetzt. Das Institut für das Nationale Gedenken (IPN) hat mit der historischen Aufklärung des Verbrechens begonnen. Der Gedenkstein, auf dem die Gestapo und die deutsche Sicherheitspolizei als Schuldige genannt werden, wurde in einer von höchster Stelle angeordneten Aktion entfernt. Bis Juli soll ein Friedhof für die Opfer eingerichtet und ein neuer Stein aufgestellt werden. Welche Inschrift er tragen wird, hängt vom weiteren Verlauf der Diskussion und von den Untersuchungen ab.

Fest steht, dass er einen Hinweis auf die Verantwortung der Deutschen für den Holocaust enthalten wird. Dass zugleich auch die von allen Beteiligten ausgemachte Verantwortung des NKWD und der Sowjetunion genannt werden wird, ist sehr wahrscheinlich. So scheint der Mythos der nationalen Unschuld noch einmal gerettet.