Antisemitismus in Brasilien

Flucht nach Rolândia

In Brasilien bedrohen neofaschistische Gruppen auch Jüdinnen und Juden, die während der dreißiger Jahre vor den Nazis geflohen sind.

Die Nazis in Brasilien haben immer existiert, genauso lange, wie es faschistische Gruppen oder Parteien in Westeuropa gibt«, erklärt Diane Kuperman, eine Journalistin und Mitarbeiterin im Beratungsstab der Ari, der größten jüdischen Gemeinde in Rio de Janeiro. Sie beobachtet seit 1996 ein Erstarken der Neonazi-Szene in Brasilien. Gruppen wie die Carecas do ABC - Careca heißt Glatze, und mit ABC sind die drei großen Industrievororte von São Paulo gemeint -, die sich der White Power-Bewegung zugehörig fühlen, haben seit 1992 mindestens neun Morde begangen. Unter den Opfern waren Homosexuelle, aber auch die jüdischen Gemeinden sind bedroht. »Heute gibt es eine nationalsozialistische Partei in Brasilien, die sich 1991/92 zur Wahl stellte. Sie bekam wenig Stimmen und ihre Mitglieder haben sich deswegen in die anderen Parteien begeben«, so Diane Kuperman.

Frau Kuperman ist eine von etwa 160 000 jüdischen Frauen und Männern, die in Brasilien leben. Besonders in der Zeit der Inquisition und später wegen der Pogrome in Osteuropa sind immer wieder Jüdinnen und Juden nach Brasilien ausgewandert oder geflohen. Finanzielle, kulturelle und moralische Lebenshilfen boten den Flüchtlingen ab 1900 einige jüdische Organisationen, wie z.B. die Ica (Jewish Colonization Association) oder die jüdische Einrichtung für Prostituierte. Die Hälfte der jüdischen Flüchtlinge kam aber erst nach 1933 aus Europa, etwa 10 000 kamen aus Deutschland.

»Wenn du mit 13 und 14 Jahren auf der Straße angespuckt wirst, wenn dir die Steine nachfliegen, wenn du in der Straßenbahn fährst und da steht: 'Keine Sitzplätze für Juden', dann ist doch alles klar! Schon ganz zu Anfang des Hitlerregimes, dreiunddreißig, waren wir uns in unserer Jugendgruppe darüber klar, dass wir nicht in Deutschland bleiben konnten«, berichtet Susanne Behrend, eine Jüdin aus dem damaligen Breslau (heute Wroclaw, Polen). Doch ihre Eltern brauchten bis 1939, um sich zur Flucht zu entschließen und dann die Papiere zusammenzubekommen. Ihr Vater war ein Jahr vorher in das KZ Sachsenhausen verschleppt worden, und es war nur ihrer Mutter und dem Ausreisevisum zu verdanken, dass er aus dem KZ entlassen wurde.

Die Eltern hatten Geld zum Erwerb von Land in Brasilien auf das Konto einer englischen Kolonisierungsgesellschaft eingezahlt. Die Nazis waren mit diesem Geschäft einverstanden, denn von dem Geld wurde deutsches Eisenbahn-Material gekauft. »Das ganze Material war bereits auf dem Schiff, das Schiff war aus dem Hafen ausgelaufen; das war im September 1939. Und dann brach der Krieg aus. Das Schiff war noch nicht aus der deutschen Hoheitszone raus, da wurde es zurückgerufen. Somit war das Austauschgeschäft gelaufen, wir hatten unsere Landrechte verloren.« Familie Stern blieb nichts anderes übrig, als in Rolândia, einem Städtchen im Landesinneren Brasiliens, in dessen Umgebung das verlorene Land liegt, bei jüdischen Familien, deren Dreiecksgeschäft gelungen war, als LandarbeiterInnen und Hausangestellte zu arbeiten. Dort entwickelte sich in den vierziger Jahren eine kleine deutsch-jüdische Gemeinschaft. Susanne Behrend, heute 80 Jahre alt, lebt noch immer in Rolândia und gibt Privatunterricht, um die Rente ihres Mannes aufzubessern, der ebenfalls ein geflohener Jude ist.

»So ein schlechtes Gewissen hatte man, und hier tat uns niemand was, wir konnten aufbauen, und alles war erfreulich, mehr oder weniger.« Käthe Kaphan beschreibt die Sorgen um die zehn Geschwister ihrer Mutter, von denen nur eines überlebt hat. Sie betont die Rolle der Frauen bei der Flucht: Die Väter oder Ehemänner wollten nicht an die Gefahr glauben. Viele dachten, weil sie im Ersten Weltkrieg Soldaten gewesen waren, würden sie von der Nazi-Verfolgung ausgenommen. Leni Hinrichsen berichtet Ähnliches von ihrem Vater. Erst nach der Mord- und Gewaltnacht des Novemberpogroms von 1938 akzeptierte er die Fluchtpläne der Mutter.

Ab 1942, nachdem Brasilien unter dem Druck der USA auf Seiten der Alliierten in den Krieg eingetreten war, galten die geflohenen Jüdinnen und Juden deutscher Herkunft plötzlich als »feindliche Ausländer«. Sie wurden nicht interniert, doch der plötzliche Feindstatus hatte einige Einschränkungen zur Folge: keine Radios mehr, keine Waffen, nicht mehr in der Öffentlichkeit Deutsch sprechen, Reiseverbot. Die brasilianische Regierung fürchtete ab 1942 eine »5. Kolonne« deutscher Nazis im Land, und diese Angst war nicht ganz unbegründet. Es gab organisierte deutsche Nazis in Brasilien, die von deutschen Industriellen finanziert wurden.

In Rio de Janeiro war der Antisemitismus stärker zu spüren als in der Provinz. Dort marschierten in den dreißiger Jahren nach Berichten der Schokoladenfabrikantin Ruth Bucki so genannte Schwarzhemden regelmäßig durch die Straßen. Als sie kurz nach der Flucht in einem deutschen Geschäft in Rio eine Stelle annehmen wollte, wurde sie gefragt, ob sie Jüdin sei. Sie bejahte und wurde nicht eingestellt. So blieb ihr nichts anderes übrig, als während der ersten Jahrzehnte in der Pension zu arbeiten, die ihre Eltern in den Bergen von Rio für kranke und erschöpfte Jüdinnen und Juden eröffnet hatten.

Erst als sie mit ihrer Partnerin und Gefährtin die Schokoladenfirma Katz eröffnete, begann für sie ein angenehmeres Leben. Frau Bucki reiste später mehrmals nach Europa. Sie besuchte auch Deutschland, nachdem sie ihre »Aversion«, wie sie es nennt, überwunden hatte. Sie ist eine der wenigen, die nach der Flucht wohlhabend wurden. Ihre Partnerin Frau Katz ist bereits gestorben. Heute lebt sie mit ihrer Freundin in Petrópolis, einem Ort in den Bergen von Rio.

Viele der geflohenen brasilianischen Jüdinnen und Juden reisten später noch einmal in das Land der Mörder ihrer Verwandten. So erzählt Frau Hinrichsen: »Ich bin 1966 zum ersten Mal wieder drüben gewesen, und zwar unter der Bedingung, dass mein Mann bei der ersten Veranlassung mit mir das nächste Flugzeug nimmt und zurückfliegt. Und ich habe ihm gesagt, wenn einer mir dumm kommt, kriegt er eine ins Gesicht. Heute lasse ich mir nichts mehr gefallen. Leider gibt es hier schon wieder eine Nazibewegung, drüben ja auch. Was mich irgendwie erschüttert hat drüben, ist, wie sich das Schicksal wiederholt. Und es sind dieselben Reden: 'Die haben doch keine Chance. Das wird nie was.' Dieselben Reden wie 1930. Sie haben nichts dazugelernt, nichts. Da könne man sich nicht drüber aufregen. Das seien ein paar Jugendliche in ihrem Überschwang. Ich sage: Von wegen Jugendliche in ihrem Überschwang.«

Die Ereignisse in Brasilien geben ihr Recht. Das Anwachsen faschistischer Bewegungen in Westeuropa gibt den Neonazis in Brasilien Auftrieb. Die Skinheads, wie sie in Brasilien genannt werden, beschmieren öffentliche Einrichtungen mit Hakenkreuzen, bedrohen Menschen, die anders sind, und morden. »Den antisemitischen Drohbrief, den ich letztes Jahr bekam, habe ich nicht zur Polizei gebracht. Die wüssten gar nicht, was sie damit anfangen sollten«, sagt Frau Kuperman. »Ich würde mich auf die Polizei hier nicht verlassen. Ich halte es für wichtiger, dass unsere jüdischen Einrichtungen von gut vorbereiteten, unbewaffneten und freiwilligen Gruppen jüdischer Menschen bewacht werden.«