Wirtschaftskrise in Japan und den USA

Harakiri der Notenbanken

Japan ist vom Crash des Jahres 1990 eingeholt worden. Die Konjunktur in den USA schwächelt. Beide Staaten stecken im finanzkapitalistischen Dilemma.

Geplatzte Blasen machen keinem Banker Kummer, und Ruhe ist auch dann die erste Bürgerpflicht. So schien es zumindest in Japan, denn dort liegt der Crash inzwischen schon zehn Jahre zurück; fast war er in Vergessenheit geraten, weil sich die Weltwirtschaft davon lange Zeit nicht sonderlich beeinträchtigt zeigte. Von 1965 bis 1990 hatte der japanische Aktienmarkt eine stetige, zuletzt immer schnellere Aufwärtsentwicklung durchlaufen, die weit über den realen Erfolg von Nippons Exportmaschine hinausschoss. Der Nikkei-Index der Börse in Tokio stieg um nicht weniger als 3700 Prozent auf fast 40 000 Punkte, und die spekulative Börsenkapitalisierung wurde noch einmal übertroffen von einem phantastischen Anstieg der Immobilienpreise.

Japan hatte sich reich gerechnet. Als die Blase 1990 sowohl bei den Aktien als auch bei den Immobilien platzte, stürzten die Finanz- und Immobilienmärkte ab; sie haben sich nie wieder erholt. Der Nikkei wurde halbiert, um danach immer weiter nach unten zu trudeln. Seither sitzt das japanische Finanzsystem auf faulen Krediten in der Größenordnung von 1 000 bis 2 000 Milliarden Dollar.

Eigentlich hätte die Konsequenz der Bankrott der großen Banken, der Zusammenbruch des Finanzsystems und eine schwere Depression Japans mit Rückschlag auf die Weltwirtschaft sein müssen. Warum konnte diese Konsequenz für so viele Jahre vermieden werden? Dafür gibt es vor allem zwei Gründe.

Manipulation der Finanzmärkte

Erstens ermöglichte die vom Buddhismus und Shintoismus geprägte paternalistische Kultur Japans eine kollektive Manipulation der Finanzmärkte und Bilanzen, wie sie im westlichen Konkurrenzkapitalismus undenkbar wäre. In einem Geflecht von Loyalitäten und Abhängigkeiten, Überkreuz-Beteiligungen, Mafia-Filz (Yakuza) und informellen Absprachen unter staatlicher Ägide wurde ein Großteil der faulen Kredite und nicht realisierten Verluste in Auffanggesellschaften geparkt oder zu den Bilanzterminen auf Treu und Glauben zwischen den Banken und Unternehmen durch Scheinverkäufe hin- und hergeschoben. Den Banken wurde erlaubt, die Eigenkapitalquote zu senken und Aktienpakete nicht zum Marktwert, sondern zum Einkaufswert zu bilanzieren usw.

Obwohl es trotzdem eine Pleitewelle gab, konnte auf diese Weise der große Bankenkrach vermieden werden. Viele Tausend eigentlich bankrotter Unternehmen vor allem in der Bau- und Immobilienbranche sowie im Einzelhandel wurden am Scheinleben erhalten, ein bis zwei Millionen Arbeitsplätze ohne ökonomische Basis durchgeschleppt.

Zweitens war es die Export-Einbahnstraße über den Pazifik in die USA, die Japan dazu verhalf, die Systemkrise hinauszuschieben. Schon den vorherigen Aufschwung hatte ein wachsender Exportüberschuss getragen, dessen Löwenanteil die USA aufgenommen hatten. Dem stand und steht bis heute kein gleichgewichtiger Warenstrom in die umgekehrte Richtung gegenüber, sondern stattdessen eine wachsende Außenverschuldung der USA - vor allem in Japan. Auch mit den Erlösen der weiter laufenden Exportmaschine konnte sich die japanische Ökonomie über Wasser halten und ihr Finanzsystem vor dem Zusammenbruch retten.

Dennoch musste von Anfang an ein Preis für die Vermeidung der Systemkrise bezahlt werden, der zwar nicht die große Depression bedeutete, aber doch die Stagnation der Konjunktur mit immer stärkeren deflatorischen Tendenzen. Die unter der Last fauler Kredite ächzenden Banken zögerten mit der Vergabe weiterer Kredite, die verschuldeten Unternehmen mit neuen Investitionen, und die in großem Ausmaß mit geplatzten Hypotheken belasteten und von ungewohnter Arbeitsplatz-Unsicherheit geplagten Konsumenten übten sich in Kaufzurückhaltung - bei einem 60prozentigen Anteil des Konsums am japanischen Sozialprodukt eine starke Konjunkturbremse.

Keynes in Japan

Die japanische Regierung versuchte zwischen 1991 und 2000 mit nicht weniger als zehn keynesianischen Konjunkturprogrammen - völlig gegen den neoliberalen ökonomischen Weltkonsens - vergeblich, das Ruder herumzureißen. Der einzige Erfolg bestand darin, dass Japan die Weltspitze der Staatsverschuldung übernahm. War der Staatshaushalt 1989/90 als globales Vorbild noch mit insgesamt nur 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (Bip) verschuldet und erzielte damals sogar einen jährlichen Überschuss von 2,9 Prozent des Bip, so hält er inzwischen mit insgesamt 140 Prozent und einer jährlichen Neuverschuldung von zehn Prozent des Bip einen erschreckenden Rekord.

Parallel dazu veranstaltete die Bank of Japan eine Zinssenkungsrunde nach der anderen, um schließlich zu einer paradoxen »Nullzinspolitik« beim wichtigsten Zinssatz, dem Tagesgeld, überzugehen: Die Banken konnten sich fast zum Nulltarif refinanzieren. An der binnenökonomischen Stagnation änderte sich dadurch nichts. Die verschuldeten Unternehmen und Haushalte nahmen trotz günstiger Konditionen keine neuen Kredite für Investitionen und Konsum auf.

Umgekehrt zerstörte die Nullzinspolitik jeden Anreiz, Geld im Inland anzulegen. Die Wirkung war eine ganz andere: Institutionelle und private Anleger nahmen zu niedrigsten Zinsen Geld auf, um es zu wesentlich höheren im Ausland anzulegen. Japan überschwemmte die ganze Welt mit seiner wundersamen Liquiditätsschöpfung und heizte die globalen Finanzmärkte an, während zu Hause nichts mehr ging.

Nur wenige Jahre später durchliefen die Tigerstaaten Südostasiens denselben Krisenzyklus wie Japan. Seit Mitte der achtziger Jahre vom Aufschwung des Exports getragen, der ebenfalls einseitig über den Pazifik in die USA ging, bildeten auch die neuen »Wunderländer« auf dieser Grundlage eine spekulative Blase bei Aktien und Immobilien, die 1997/98 platzte. Und wie in Japan wurden die daraus resultierenden faulen Kredite und nicht realisierten Verluste mit Hilfe des asiatischen Paternalismus unter dem Deckel gehalten, während die weiterlaufenden Exportüberschüsse im Handel mit den USA der Kompensation dienten. Zwei Jahre später gab es eine allgemeine Entwarnung: Die Asienkrise, so hieß es, sei überwunden, und die Bank of Japan sah das Konjunkturtal durchschritten, erhöhte erstmals seit zehn Jahren die Zinsen und kündigte marktöffnende Reformen an.

Vor dem Kollaps

Umso größer war der Katzenjammer, als parallel zu einem dramatischen Absturz der Aktienmärkte in den USA, Europa und Japan im Frühjahr 2001 der japanische Finanzminister mit einer für asiatische Verhältnisse außergewöhnlich undiplomatischen Offenheit wie aus heiterem Himmel verkünden musste, das Finanzsystem seines Landes stehe kurz vor dem Kollaps. Welche Veränderungen sind für diese unerwartete Wendung verantwortlich?

Japan ist von seinem lange verdrängten, aber nie wirklich bewältigten Crash des Jahres 1990 eingeholt worden. Die Verzögerung der Systemkrise war nur unter der Bedingung möglich, dass irgendwann die Binnenkonjunktur wieder anspringt. Alle Versuche, diesen Start mit Hilfe staatlicher Geldspritzen zu bewerkstelligen, sind nun ausgereizt. Der durch diesen Misserfolg mitbedingte neuerliche Verfall des Nikkei-Index um mehr als 30 Prozent seit Beginn des Fiskaljahres 2000/01 hat den Banken zusätzliche unrealisierte Wertverluste in bis zu zehnfacher Höhe der angestauten faulen Kredite eingebracht. Bei der anstehenden jährlichen Bilanzierung wird ein massiver Abzug von Guthaben verunsicherter Bankkunden befürchtet. Schlagartig ist der Druck gestiegen, der verzögerten »Bereinigung« von Unternehmenssektor und Arbeitsmarkt endlich freien Lauf zu lassen. Der Optimismus der Bank of Japan hat sich als grandiose Fehleinschätzung erwiesen.

Boom und Krise in den USA

Gleichzeitig droht aber auch der andere Motor der japanischen Krisenverhinderung ins Stocken zu geraten, nämlich die Exportmaschine in die USA. Die geplatzten Blasen Japans und der Tigerländer konnten ja nur deshalb über Jahre hinweg kompensiert werden, weil die Blasen in den USA - und in Europa - noch munter weiter aufgebläht wurden. Nur durch den permanenten Zufluss ausländischen Geldkapitals und die ebenso permanente Steigerung der Aktienwerte konnten die USA die Überschüsse der ganzen Welt importieren und die notleidenden Volkswirtschaften stützen. Seit März 2000 aber sind die »neuen Märkte« der High-Tech- und Internet-Werte um 60 bis 80 Prozent abgestürzt, genau ein Jahr später scheint nun auch der Verfall der Standardwerte begonnen zu haben.

Zweckoptimistisch wird allgemein behauptet, dass die Krisenkurve Japans 1990 und der Tigerstaaten 1997/98 nicht mit derjenigen in den USA heute zu vergleichen sei - die US-Ökonomie sei viel gesünder. Genau das Gegenteil ist der Fall. Der spekulative Boom in den USA wurde nicht auf einen Exportboom aufgesattelt, sondern umgekehrt auf ein mit Außenverschuldung bezahltes gigantisches Handelsdefizit. Insofern ist die Tiefendimension der US-Krise viel schlimmer. Zwar hat es in den USA keine zusätzliche Blase am Immobilienmarkt gegeben wie in Asien, dafür aber die zusätzliche und viel größere Blase der »New Economy«. Und hatte Japan 1990 noch eine Sparquote von 16 Prozent, so ist sie heute in den USA gleich Null oder sogar negativ. Selbst die viel gepriesenen Überschüsse des US-Staatshaushalts in den letzten beiden Jahren liegen mit 2,3 Prozent des Bip unter den damaligen japanischen.

Vor allem aber: Die Unternehmen und Konsumenten sind in den USA wesentlich höher verschuldet, als es die asiatischen jemals waren. Im Vertrauen auf weitere Kurssteigerungen ihrer Aktien-Portfolios haben die US-Privathaushalte bis Herbst 2000 praktisch den Konsum mehrerer Jahre vorweggenommen. Und zusätzlich zu den ohnehin schon aufgehäuften Schulden haben viele Unternehmen der IT-Branche seit dem Beginn der Talfahrt an der Nasdaq in der falschen Hoffnung auf eine baldige Trendwende eigene Aktien im großen Maßstab zwecks Kurspflege auf Pump zurückgekauft; inzwischen ist ihre Lage umso verzweifelter. Es war absehbar, dass der Prozess der Privat- und Unternehmensverschuldung irgendwann den Prozess der Börsenkapitalisierung überholen würde. Die anhaltende Flut von Gewinnwarnungen in allen Bereichen der US-Ökonomie - und inzwischen auch in Europa - zeigt, dass das Limit erreicht oder schon überschritten ist. Kapitalismus ohne Profit geht nicht. Und jetzt brechen auch die Umsätze in wichtigen Bereichen - wie z.B. bei Mobiltelefonen - weg.

Folgen für die Weltwirtschaft

In der krisenhaften Verschränkung einerseits von Konjunktur und Börse auf der strukturellen Ebene, andererseits von Nordamerika und Asien auf der Ebene der Weltmarktbeziehungen zeichnet sich somit die Möglichkeit einer Eskalationsbewegung ab. Generell ist bei ökonomischen Rückwirkungen mit einer Inkubationszeit von sechs Monaten bis zwei Jahren zu rechnen. Seit Ende 2000 zeigen sich in der US-Konjunktur die ersten Brandspuren des Crashs an der Nasdaq. Diese Spuren wiederum haben den Crash beschleunigt und auf die Standardwerte übergreifen lassen. Als Folge der Abschwächung in den USA gehen nun Export und Investitionen in Japan zurück, was dort den Druck auf das Finanzsystem erhöht. In der Folge davon wiederum könnte, wie schon lange befürchtet, japanisches Geldkapital aus den USA abgezogen und dadurch der Abschwung der US-Konjunktur beschleunigt werden usw.

Dieser Eskalation wird sich Europa kaum entziehen können. Nicht nur der Export in die USA und nach Japan wird dann zurückgehen, sondern auch der Export in alle vom japanischen und US-amerikanischen Abschwung betroffenen Volkswirtschaften - sowohl in Asien und Lateinamerika als auch innerhalb der EU selbst.

Hinter der Unberechenbarkeit der Erscheinungen und den wilden Ausschlägen der Finanzmärkte steht letztlich die Entwertung der Arbeit und damit die Entsubstanzialisierung des Geldes durch die unbeirrt mahlende Mühle der dritten industriellen Revolution. Mit jedem partiellen Crash wird die Systemkrise reifer und dringt auch in den Zentren stärker an die Oberfläche. Wenn das globale Desaster abermals verzögert werden soll, muss um jeden Preis der Konsum in den USA und Japan angeschoben werden.

Das dürfte diesmal jedoch schwieriger sein als in der Vergangenheit. Das Platzen der US-Blase ist viel gravierender als das Platzen der asiatischen Blase. Denn die USA haben keine andere USA, um einen Crash außenwirtschaftlich zu kompensieren. Sicher könnten sie versucht sein, ihre Probleme zu exportieren. Für eine Exportoffensive fehlen dem Importweltmeister aber die Produkte und Kapazitäten. Außerdem müssten sie, um die Krise exportieren zu können, den Dollar drastisch abwerten, was zu einem Abwertungswettlauf mit dem Yen, in der Folge mit sämtlichen asiatischen Währungen und schließlich auch mit dem Euro führen würde. Dieses durchaus realistische Szenario einer globalen Währungskrise - die Yen-Abwertung hat bereits begonnen - wäre erst recht verheerend für Konjunktur und Finanzmärkte.

Staatliche Geldspritzen für Marktjunkies

So bleibt nur das alte Mittel der direkten und indirekten staatlichen Geldspritzen. Innerhalb weniger Wochen hat die US-Notenbank (Fed) drei Zinssenkungen vorgenommen und eine vierte angekündigt, Präsident George W. Bush plant ein zehnjähriges Steuersenkungsprogramm von 1 600 Milliarden Dollar pro Jahr, und die Bank of Japan ist nicht nur zur Nullzinspolitik zurückgekehrt, sondern will den Banken bei der Refinanzierung auch größere Kontingente zuteilen.

Es ist aber unerfindlich, warum in Japan jetzt plötzlich funktionieren soll, was bisher versagt hat, und warum die USA mit derselben Methode besser fahren sollen als Japan. Bushs Steuersenkung betrifft entweder nur Haushalte, deren Konsum bereits gesättigt ist, oder die frei werdenden Gelder müssen zur Sanierung der aufgelaufenen Schulden verwendet werden. Aus demselben Grund verpuffen die Zinssenkungen in den USA und Japan, denn das billige Geld wird eher für Umschuldungen im Unternehmens- und Privatsektor verwendet als für Investitionen und Konsum.

Wenn also die Geldspritzen wirken sollen, müssen sie in einer wesentlich höheren Dosis verabreicht werden als bisher. Und dabei muss auch die Europäische Zentralbank (EZB) mitspielen, weil sich sonst die globalen Kapitalströme umkehren und so die Krise potenziert statt verhindert wird. Neben einem Abwertungswettlauf ist also ein Zinssenkungswettlauf denkbar. Die große Sünde gegen die monetaristische Wirtschaftstheologie zeichnet sich bereits ab als eine Art Börsenkeynesianismus, der durch ein synchrones Öffnen der Geldschleusen in allen drei großen Wirtschaftsblöcken das Finanzkapital und die davon abhängig gewordene Konjunktur retten soll.

Der Preis wäre die Rückkehr der Inflation, die in den USA bereits jetzt bei einer Jahresrate von 3,5 Prozent liegt. Noch vor wenigen Monaten hätte dies den Fed-Chef Alan Greenspan alarmiert und zu Zinserhöhungen veranlasst, heute treibt ihn die Not zu einer genau entgegengesetzten Politik. Geht es in diese Richtung weiter, ist sogar die historisch einmalige Gleichzeitigkeit von Depression und Inflation möglich: nämlich eine Deflation der Vermögenswerte durch Aktiencrashs mit der Folge von Massenentlassungen und Massenbankrotten, während die am Markt verbliebenen Unternehmen sich wegen ihrer Überschuldung trotzdem zu Preiserhöhungen gezwungen sehen.