Freiflug nach Den Haag

Nach der Verhaftung Slobodan Milosevics wächst der Druck auf Jugoslawien, ihn an das Uno-Kriegsverbrechertribunal auszuliefern.

In Momenten tiefer persönlicher oder politischer Krisen begibt sich der ehemalige jugoslawische Präsident Slobodan Milosevic immer wieder in die innere Emigration. So erzählte ein Schulfreund, dass er am Abend des 23. März 1999, wenige Stunden vor dem Beginn des Nato-Bombardements, von Milosevic zum Kartenspielen eingeladen worden sei. Die letzten internationalen Vermittler waren aus Belgrad abgereist, die ersten Kampfjets nahmen schon Kurs auf sein Land, und der Präsident vergnügte sich bei einer Kartenrunde.

Ebenso schien er sich in den Stunden vor seiner Verhaftung, als seine Villa bereits von der Polizei belagert wurde, von der Realität abzunabeln. Eine Reporterin des amerikanischen Fernsehsenders NBC verblüffte er mit der Aussage: »Es ist keine Rede davon, dass ich verhaftet werden soll. Ich sitze in meinem Haus und sehe mir das an wie jeder andere serbische Bürger.«

Als am frühen Sonntagmorgen dann doch Polizisten und Unterhändler der jugoslawischen Regierung in die Residenz im noblen Belgrader Vorort Dedinje eindrangen, begriff Milosevic schließlich, was auf ihn zukam. »Er war in einem sehr instabilen Zustand. Er fuchtelte mit einem Gewehr herum und drohte, seine Frau, seine Tochter und sich selbst umzubringen«, erklärte der stellvertretende serbische Ministerpräsident Zarko Korac. Wenige Minuten später wurde Slobodan Milosevic in einem schwarzen Audi zum Belgrader Zentralgefängnis gebracht. Nur seine Tochter Marija erlitt einen Nervenzusammenbruch und schoss einige Male in die Luft.

Das Ausbleiben des von vielen erwarteten Selbstmordes wurde nicht nur in Serbien bitter beklagt. »Er ist ein Narr, dass er sich ergeben hat. Ich war fast sicher, dass er den Mut haben würde, sich umzubringen. Das hätte diese Ära ehrenvoll beendet«, trauerte etwa der frühere serbische Premierminister Milan Panic um den Untoten. Und im Berliner Tagesspiegel schrieb Christoph von Marschall: »Die Verhaftung kann nur ein erster Schritt sein. Am Ende muss er nach Den Haag. Es sei denn, er richtet sich selbst, wie andere Tyrannen vor ihm.«

Zwar kann nicht ausgeschlossen werden, dass ein Selbstmord und damit eine definitive Entsorgung der politischen Altlast Milosevic tatsächlich im Kalkül der Polizei lag. Doch wahrscheinlicher ist, dass die Polizeiaktion in Belgrad nur dilettantisch geplant war. »Sie hätten es machen müssen, wenn keine Leute in der Nähe gewesen wären, und nicht unbedingt genau an diesem Tag, wo jeder gewusst hat, dass es ein US-amerikanisches Ultimatum gibt, das ausläuft«, bemerkte etwa ein britischer Sicherheitsberater. »Es ist alles gelaufen, wie wir es uns gewünscht hatten«, beharrte hingegen der serbische Justizminister Vladan Batic darauf, dass die Operation am Wochenende richtig war. Doch daran darf gezweifelt werden, denn vieles ging schief, was nicht hätte schief gehen müssen.

So soll sich die Armeeführung während der Belagerung der Villa gegen den sozialen Abstieg ihres einstigen Oberbefehlshabers gewehrt haben. Im Park des Anwesens waren Schützenpanzer aufgefahren. Die Belgrader Zeitung Politika berichtete wenige Stunden nach dem ersten missglückten Festnahmeversuch in der Nacht von Freitag auf Samstag, die Armee hätte die Verhaftung »vereitelt«. Auch der jugoslawische Innenminister Zoran Zivkovic spekulierte in diese Richtung: »Die Gegenwehr der Armee war kein Missverständnis, sondern ein Mini-Putschversuch.«

Schnell geriet der jugoslawische Generalstabschef Nebojsa Pavkovic in den Verdacht, seinen ehemaligen Dienstherrn schützen zu wollen. Nach Meinung einiger politischer Kommentatoren war es sogar der jugoslawische Präsident Vojislav Kostunica selbst, der seinem Vorgänger zur Seite stehen wollte. Als Oberbefehlshaber der Armee hätte er die Befugnis dazu, und da er einen möglichst reibungslosen Übergang wünscht, hätte er auch ein Motiv. Doch dass Kostunica auf derart brachiale Weise den Machtkampf mit der Reformer-Fraktion des Premierministers Zoran Djindjic entscheiden will, ist unwahrscheinlich.

Mit der Übersiedlung Milosevics in das schmucklose Belgrader Zentralgefängnis aber hat sich die jugoslawische Regierung in eine Situation hineinmanövriert, in der der internationale Druck massiv zunehmen wird, ihn doch an das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag zu überstellen.

Zwar ist die zweite Tranche des 100-Millionen-Dollar-Kredits aus den USA vorerst gerettet, aber wenn Belgrad auch die Kredite der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds in Höhe von rund 300 Millionen US-Dollar kassieren möchte, wird mittelfristig nichts anderes übrig bleiben, als Milosevic in ein Flugzeug nach Den Haag zu setzen. »Wir haben Milosevic nicht festgenommen, um ihn nach Den Haag ausliefern zu können«, dementierte zwar der serbische Innenminister Dusan Mihajlovic kurz nach der Verhaftung. Doch alles deutet darauf hin, dass man nur aus innenpolitischer Rücksicht mit der Auslieferung wartet.

Bisher hatte man argumentiert, dass die jugoslawische Verfassung einer Auslieferung entgegenstehe. Denn nach jugoslawischem Recht dürfen Staatsbürger nicht an andere Länder ausgeliefert werden. Diese Hürde sieht das Tribunal nicht. »Wir sind ja kein Staat, sondern nur ein Gericht. Es ist also keine Auslieferung, sondern nur eine Überstellung«, erklärte die Sprecherin von Chefanklägerin Carla Del Ponte, Florence Hartmann, der Jungle World.

Das politische Establishment in Belgrad aber lässt sich auf solche Haarspaltereien nicht ein. »Eine Auslieferung ist erst möglich, nachdem wir ein entsprechendes Gesetz verabschiedet haben, und das wird nicht vor den Wahlen in Montenegro am 22. April geschehen«, verspricht der serbische Justizminister Vladan Batic. Sollte es zur Verabschiedung eines solchen Gesetzets kommen, wäre sein wichtigster Zweck die Auslieferung Slobodan Milosevics. Aber noch spielt man auf Zeit.

Der jugoslawische Präsident Vojislav Kostunica ist gegen eine Auslieferung - und er hat gute Gründe dafür. »Kostunica verfügt über keinen Rückhalt im DOS-Bündnis, aber dafür über eine enorme Popularität in der Armee«, sagt etwa die Chefin des jugoslawischen Helsinki-Kommitees, Sonja Biserko, der Jungle World. Und die Armee wäre von einem Prozess des Tribunals gegen Milosevic, bei dem ihre teilweise verbrecherischen Methoden zur Sprache kommen würden, ebenfalls betroffen. Ein solcher Prozess gegen die stärkste Machtbasis Kostunicas wäre für die DOS-Reformer rund um Zoran Djindijc ein willkommener Anlass, um jenen auszuhebeln.

Für seine Wirtschaftsverbrechen in Jugoslawien hätte Slobodan Milosevic eine Gefängnisstrafe von fünf bis fünfzehn Jahren zu erwarten, auch wenn sein Anwalt Toma Fila meint, es gebe für die Richter »keine Chance auf eine Verurteilung«. Die serbische Justiz rechnet mit einem massiven Zulauf von Nebenklägern, die Milosevic wegen schwererer Vergehen wie Entführung oder diversen Morden an politischen Gegnern vor Gericht sehen möchten. Die ersten haben sich auch schon angeboten. »Eine Nebenklage ist nicht ausgeschlossen«, meint etwa Nikola Barovic, Anwalt der Familie des im Sommer 2000 gekidnappten serbischen Ex-Präsidenten Ivan Stambolic gegenüber Jungle World.

Derzeit ist aber die Belgrader Politik noch damit beschäftigt, sich in der neuen Situation zurechtzufinden. Zoran Djindjic scheint sich dabei ebenso in die innere Emigration zu flüchten, wie es Milosevic in Krisensituationen tat. Am Samstag noch behauptete er, von einem Festnahmeversuch nichts zu wissen. »Ich habe mit meinem Sohn 'Gladiator' angesehen.«