Urteil gegen ehemaligen SS-Mann

Ein normaler Mörder

Der ehemalige SS-Mann Julius Viel ist in Ravensburg als Exzesstäter verurteilt worden.

Der große Sitzungssaal des Ravensburger Landgerichts war schon fast leer, da wurde das private Siegerfoto aufgenommen. Efraim Zuroff vom Simon Wiesenthal Center Jerusalem bat Kurt Schrimm an seine Seite. Er und der Leiter der Ludwigsburger Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen lächelten in die Kamera, Schrimm etwas verlegen, Zuroff zufrieden und entspannt.

Kurz zuvor hatte der Vorsitzende Richter Hermann Winkler das Urteil gegen den ehemaligen SS-Untersturmführer Julius Viel verkündet: zwölf Jahre Haft. Erleichtert erklärte Zuroff, das Votum der Schwurgerichtskammer sei gut, weil es ein Signal an die Welt darstelle. Schließlich stünden in Lettland und Litauen noch einige NS-Verfahren aus. Auch Schrimm, in dem viermonatigen Prozess Vertreter der Anklagebehörde, äußerte sich positiv, obwohl er eine lebenslange Freiheitsstrafe für den 83jährigen Viel beantragt hatte. Trotzdem überlegt der Oberstaatsanwalt, ob er sich nicht Viels Verteidiger anschließt und eine Revision beantragt; es dem Angeklagten unter anderem als strafmindernd anzurechnen, dass er nach 1945 »als normaler Bürger« gelebt habe, sei nicht akzeptabel. Doch über Schrimms Bedenken hinaus regt der Ravensburger Richterspruch zu ganz anderen Überlegungen an.

Schon zu Beginn des Prozesses, Anfang Dezember, hatte Richter Winkler verlauten lassen, es handle sich in der Strafsache gegen Julius Viel nicht um ein »eigentliches NS-Verfahren«. Ausgehend von dieser Einschätzung entwickelte die Ravensburger Schwurgerichtskammer ihr Urteil, das der Vorsitzende am 3. April vortrug. Viel sei zur Tatzeit, im März 1945, in keine Organisation eingebunden gewesen, sondern habe allein »auf seine Kappe« die Tat begangen, ohne Befehl. Nicht »Rassenhass, sondern niedrige Beweggründe und Mordlust« hätten ihn getrieben, sieben Menschen zu erschießen. »Auch nach damaliger Auffassung musste jedes Menschenleben als gleichwertig angesehen werden.«

Man glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Aber die Ravensburger Schwurgerichtskammer tat nichts anderes, als das deutsche Strafrecht im Sinne einer Bestrafung des ehemaligen SS-Mannes konsequent anzuwenden. Seit dem 31. August 1951 können Gerichte in der Bundesrepublik NS-Verbrecher einzig nach den Maßgaben des Strafgesetzbuches verurteilen. Damals endete für die BRD-Justiz die Möglichkeit, das vom Alliierten Kontrollrat erlassene Gesetz Nr. 10 anzuwenden, das »Verbrechen gegen die Menschheit« unabhängig von dem zur Tatzeit und am Tatort geltenden positiven Recht bestrafte.

Da die Legislative in der BRD auf Sonderregelungen verzichtete, galt für NS-Verbrechen fortan allein das Strafgesetzbuch und damit das Rückwirkungsverbot. Nullum crimen nulla poena sine lege - strafbar ist nur, was zur Zeit der Tat gesetzlich mit Strafe bedroht war, definiert der entsprechende Artikel im Grundgesetz. Im Falle Viels bestimmt folglich das Reichsstrafgesetzbuch Art und Höhe der Strafe; einzig das Höchstmaß der Todesstrafe hat keine Geltung mehr.

Die politische Botschaft des »unpolitischen« Ravensburger Strafprozesses lautet: Viel ist ein »normaler« Mörder, mit der Einschränkung, dass seine Tat in der Zeit des Nationalsozialismus nicht verfolgt, sondern geduldet wurde. Verglichen mit anderen Tätern, die vom Schreibtisch aus die industrielle Massenvernichtung organisierten und, als »Gehilfen« eingestuft, oft mit wenigen Jahren Haft davonkamen, wurde der »Exzesstäter« Viel, so der juristische Terminus, geradezu hart bestraft.

Unter den insgesamt 44 Zeugen, die in Ravensburg gehört wurden, war nur ein ehemaliger Häftling des Gestapo-Kerkers Kleine Festung Theresienstadt, Richard Löwy. Doch seine Aussage ließ Richter Winkler in der Urteilsbegründung unerwähnt. Als Zwangsarbeiter im »Karrenkommando« transportierte Löwy die Leichen von dem Panzergraben ab, den gut tausend Häftlinge der Kleinen Festung im März 1945 ausheben mussten. Bewacht wurden sie von Kadetten der SS-Nachrichtenschule aus dem nahen Leitmeritz, in der Viel als Aufsichtsführer fungierte. Löwy berichtete, er habe gehört, wie sich ein Gestapo-Mann, den er seit seiner Vernehmung in Prag kannte, am Panzergraben mit Viel unterhalten habe. Mithäftlinge hätten ihm später Erschießungen am Panzergraben beschrieben. »So, wie es die Häftlinge schilderten, war es Viel und kein anderer.«

Richter Winkler geht davon aus, dass in wenigen Tagen etwa 180 Häftlinge am Panzergraben starben. Doch Löwys Einschätzung, der Graben sei nur ausgehoben worden, um Häftlinge zu liquidieren, folgte das Schwurgericht genauso wenig wie seinen anderen Angaben. Hätte das Gericht »Vernichtung durch Arbeit« vorausgesetzt, wäre Viel ein »Gehilfe« und kein »Exzesstäter« gewesen, mit den angedeuteten juristischen Folgen.

So stützte sich die Urteilsbegründung im Wesentlichen auf die Aussage eines ehemaligen SS-Mannes und Untergebenen Viels, Adalbert Lallier. Er hatte den Prozess ins Rollen gebracht und war der einzige unter den in großer Zahl vernommenen alten Kameraden, der Viel des siebenfachen Mordes bezichtigte.

»Ja, das ist das Leid meines Lebens«, sagte Lallier über das Morden am Panzergraben. Deswegen wolle er auf seinem Grundstück in Kanada einen Gedenkstein für die ermordeten sieben Juden errichten, nebst einem kleinen für seinen von Partisanen getöteten Bruder, einen Angehörigen der Waffen-SS-Division Prinz Eugen. Lallier ist außerdem davon überzeugt, dass er damals nur das Beste wollte, nämlich »die Stalinisten von Zentraleuropa fern halten«.

»Diese Leute sind die einzigen, die uns die Wahrheit erzählen können«, meinte Efraim Zuroff abschließend über Lallier. Das ist leider richtig. Denn die meisten Opfer, die der Nazi-Mordmaschinerie entkamen, sind inzwischen verstorben, und so hofft Zuroff wohl darauf, dass Leute wie Lallier ihr Schweigen brechen. Angesichts der Lügen, Verstocktheiten und »Erinnerungslücken« jener in Ravensburg vernommenen SS-Männer eine vage Hoffnung.