Wirtschaftskrise in der Türkei

Sind so leere Kassen

Mitten in der türkischen Wirtschaftskrise wendet sich auch die sozialdemokratische Basis gegen den Ministerpräsidenten.

Nun flimmern wieder die bekannten Bilder über die Fernsehschirme: Sicherheitskräfte gehen mit Schlagstöcken, Wasserwerfern, gepanzerten Fahrzeugen und Tränengas gegen aufgebrachte Demonstranten vor. Zehntausende protestierten vergangene Woche in Ankara und anderen Städten gegen die sozialen Auswirkungen der Wirtschaftskrise. Sie forderten zum wiederholten Male den Rücktritt der Regierung und skandierten: »Hau ab, IWF!«

Schon seit Wochen mögen die Leidtragenden ihren Unmut nicht mehr unterdrücken. In Adana streuten Kleinhändler und Bauern faules Gemüse auf die Straße, in Batman boten alle Ladenbesitzer kollektiv ihre Geschäftslokale zum Verkauf an; in Istanbul blieben viele Betriebe geschlossen, Arbeiter und Angestellte blockierten gemeinsam Straßen und Autobahnen.

Ministerpräsident Bülent Ecevit dürfte sich derzeit nicht besonders wohl fühlen in seiner Haut. Denn die dem Kemalismus verbundenen Kleinhändler, die bei Protestaktionen vielerorts Plakate mit dem Bild des Staatsgründers Kemal Atatürk trugen, gehören eigentlich zu den traditionellen Wählerschichten der Demokratischen Linkspartei (DSP) von Ecevit.

Selbst Kemalist, vertrat der Premier immer ein sentimentales Modell vom Wohlfahrtsstaat, für den es in der Türkei außerhalb der politischen Rhetorik keine Entsprechungen gibt. Zu den kemalistischen Prinzipien der zwanziger Jahre zählte der Etatismus, eine staatlich regulierte Wirtschaftsweise, die eine Modernisierung der Gesellschaft ermöglichen sollte.

Schon damals ließ sich das Modell wegen der dominierenden Vetternwirtschaft nicht realisieren. In den fünfziger Jahren wurde es von der Regierung unter Adnan Menderes demontiert; mittelständische Bauern aus Anatolien bildeten die Basis einer Bewegung gegen den paternalistisch-kemalistischen Staat.

Und auch jetzt wird die Regierung Ecevit von ihrer eigenen Basis am heftigsten angegriffen. Seit der 35prozentigen Abwertung der türkischen Lira im Februar explodieren die Preise für Konsumgüter. Es begann mit Luxusartikeln wie Alkohol und Zigaretten, dann stiegen die Benzinpreise. Inzwischen liegt selbst der Zuckerpreis um 20 Prozent höher als im Januar.

»Die Regierung muss zurücktreten!« schallte es bei den Demonstrationen durch die Städte. Die Reaktion des Premiers ist schlapp. Bülent Ecevit entgegnet dieser im ganzen Land erhobenen Forderung immer wieder mit den Worten: »Es gibt zu dieser Regierung keine Alternative. Wir sind entschlossen, uns verantwortungsvoll mit der Lösung der Probleme zu befassen.«

Für die Bevölkerung sind diese Formulierungen leere Phrasen. Denn der noch vor kurzem unangefochtene Ministerpräsident ist ein mit den derzeitigen Problemen völlig überlasteter Mann ohne jedes Gespür für die alltäglichen sozialen Auswirkungen dieser Wirtschaftskrise.

Zudem löste er in den vergangenen Monaten mit jeder Regierungserklärung einen weiteren Börsencrash aus. Er sprach von einer zweiten Einkommenssteuer, und die Lira sank in den Keller. Er verkündete, dass die Immobiliensteuer angehoben werde, und die Währung fiel erneut. Zugleich begann die Bevölkerung zu protestieren, denn Immobilienbesitz dient traditionell der privaten Altersversorgung, weil von den staatlichen Renten niemand leben kann.

Der Grund für die Krise liegt unter anderem in den Mechanismen, die die Machtverteilung in der Türkei bestimmen. Anfang des Jahres hatte Ecevit nach der Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates mit zitternder Stimme und in pathetischem Tonfall erklärt, dass der Staatspräsident sich »in Sitte und Anstand missachtender Weise geäußert« habe und die Regierung in einer schweren Krise stecke.

Die Konsequenzen waren verheerend. Ausländische Investoren zogen bestürzt Milliarden von Devisen aus dem Land ab, türkische Anleger wiederum flüchteten in ausländische Währungen. Daraufhin gab die Regierung über Nacht den an den US-Dollar und die D-Mark gekoppelten Wechselkurs frei. Die türkische Lira verlor mehr als 30 Prozent ihres Wertes, und die Privatwirtschaft büßte Milliarden ein. Erneut zogen vor allem ausländische Investoren ihr Geld vom türkischen Markt ab, Gläubiger stornierten zugesagte Kredite. Das Bankensystem geriet in Liquiditätsschwierigkeiten und kollabierte.

Der Teufelskreis war perfekt. Denn ausgelöst wurde die Kontroverse zwischen dem Staatspräsidenten Ahmet Necdet Sezer und Bülent Ecevit durch den Bankrott einer ganze Reihe von privatisierten, ehemals staatlichen Geldinstituten.

Sezer hatte zuvor im Nationalen Sicherheitsrat angekündigt, dass er neben den von Ecevit eingesetzten Kommissionen zur Untersuchung der Hintergründe für die Konkurse im Bankwesen eigene Ermittlungsausschüsse einrichten werde. Indirekt warf er Ecevit damit vor, die Recherche nicht objektiv zu betreiben.

Die Auseinandersetzung beleuchtet das System von Parteienwirtschaft und Machtmissbrauch. Die staatlichen Banken in der Türkei unterstehen keiner unabhängigen Aufsicht. Die Parteien selbst besetzen die Vorstände der Banken mit ihnen nahe stehenden Personen und instrumentalisieren die Geldinstitute für eigene Interessen. Kredite werden häufig unter dem Gesichtspunkt der klientelistischen Landschaftspflege gewährt. Mit dieser Praxis sind für die Banken Verluste in Milliardenhöhe verbunden.

Der Neffe des ehemaligen Staatspräsidenten Süleyman Demirel etwa, Murat Demirel, saß im Vorstand von fünf Banken, die er durch betrügerische Kreditvergabe um 15 Milliarden Euro geprellt haben soll. Inzwischen sitzt er in Untersuchungshaft.

Meldet ein Geldinstitut schließlich Bankrott an, muss in der Türkei der Staat einspringen. Dieser Umstand trägt nicht unwesentlich zur Inflation bei, und irgendwann sind die Kassen endgültig leer. Der Notstand ist vor kurzem eingetreten.

Seitdem taumelt die Regierung hilflos von einer internationalen Finanzinstitution zur nächsten. Ende März verhandelte der mit Sonderkompetenzen ausgestattete neue Wirtschaftsminister Kemal Dervis mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) über eine Finanzspritze, Anfang April erklärte sich die Weltbank bereit, das neue Wirtschaftsprogramm der türkischen Regierung zu unterstützen. Auch die G-8-Länder und die EU sollen einspringen.

Doch in den vergangenen Wochen ist die marode türkische Wirtschaft in die Hyperinflation der achtziger Jahre zurückkatapultiert worden, und selbst mithilfe ausländischer Kredite wird es schwer fallen, die Krise zu meistern. Ihre Folgen sind längst schmerzhaft spürbar. Währenddessen übertreffen die Mitglieder der Regierung einander mit peinlichen Verlautbarungen. Zuletzt diskreditierte sich Kemal Dervis mit den Worten, auch er habe in seiner Jugend häufig demonstriert.