Enzo Traverso über Norman Finkelstein

»Ein Objekt der Vereinnahmung«

Auch in Frankreich haben Norman Finkelsteins Thesen über die so genannte Holocaust-Industrie heftigen Widerspruch hervorgerufen - bis hin zu einer Anzeige wegen »Aufstachelung zum Rassenhass«. Enzo Traverso gehört dem Kollektiv La Fabrique an, das Finkelsteins Buch veröffentlicht hat. Traverso, 1957 in Italien geboren, ist Dozent für politische Wissenschaften an der Universität in Amiens und Lehrbeauftragter an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris.

Worin bestehen Ihrer Ansicht nach die Besonderheiten der französischen Rezeption Finkelsteins?

Finkelsteins Buch fand in Frankreich kein großes Echo. Anders als in Deutschland und Österreich gab es keine Finkelstein-Affäre. Finkelstein hat das Buch nicht persönlich vorgestellt. Es gab lediglich eine Presse-Debatte: auf der einen Seite Libération, die das Buch verteidigte, auf der anderen Le Monde, die es heftig kritisierte. Libération begrüßte diesen Essay als einen notwendigen Schritt in Richtung einer »Entheiligung« der Erinnerung an die Shoah, während Le Monde es als das zweideutige, bis an die Grenze einer objektiven Komplizenschaft mit dem Antisemitismus gehende Pamphlet eines radikal antizionistischen Juden angriff.

Nach der Lektüre Ihrer Arbeit über »Die Marxisten und die jüdische Frage« und »die Intellektuellen und die Shoah« konnte man sehr erstaunt, wenn nicht sogar schockiert sein beim Lesen Ihres Finkelstein-Lobs in der Zeitschrift Avanti. Demgegenüber ist Ihr jüngerer Essay »Politik der Erinnerung« sehr kritisch. Hat sich Ihre Position geändert, oder was ist im Zeitraum zwischen diesen beiden Texten geschehen?

Den Artikel in Avanti habe ich nie gesehen. Es dürfte sich um eine Übersetzung einer Buchkritik vom letzten Sommer in einem niederländischen Blatt handeln. Zwischen diesem Artikel und »Politik der Erinnerung« gibt es in den Grundzügen keine Divergenz; es gibt eine Änderung im Ton und eine Akzentuierung meiner Einwände. Trotz all meiner Vorbehalte und obwohl ich in mehrerlei Hinsicht mit der Sichtweise Finkelsteins nicht einverstanden bin, stand ich der Publikation des Buches positiv gegenüber, was ich auch dem britischen Verlag Verso mitteilte, der mir das Manuskript geschickt hatte.

Denn ich glaube, das Buch spricht einige wichtige Probleme an: öffentlicher Gebrauch der Geschichte, Politik der Erinnerung, Institutionalisierung der Erinnerung an die Shoah, ihre Transformation in eine Art »Zivilreligion« des Okzidents usw. Doch die Art, wie Finkelstein diese Fragen bearbeitet, scheint mir teilweise unangemessen, teilweise falsch. Ich bedaure sehr, dass er seinen Kritikern nie zuhören wollte.

Es gibt ein weiteres Problem: In den USA konnte dieses Buch als eine »heilsame Provokation« betrachtet werden; eine mechanische Übertragung seiner Thesen auf Europa und vor allem auf Deutschland ist Missverständnissen und höchst gefährlichen Amalgamierungen und Verdrehungen ausgesetzt. Ich fürchte, weder Finkelstein noch seine Verleger haben sich dieses Problem bewusst gemacht.

Sie erwähnen in Ihrem Essay die gespenstische Szenerie der Buchpräsentation in der Urania Anfang Februar. Hat die deutsche Rezeption des Buches bei dieser Akzentverschiebung eine Rolle gespielt?

Die Veranstaltung in Berlin hat meine Befürchtungen bestätigt. Ich glaube, Finkelstein hat sich nicht darüber Rechenschaft abgelegt, dass sich die Begriffe in den USA und Deutschland unterscheiden. Nur ein Beispiel: In den USA von »jüdischer Lobby« zu sprechen, ist geläufig und banal, das provoziert keinen Skandal. In Deutschland und allgemeiner in Europa von »jüdischer Lobby« zu sprechen, bedeutet in einer typisch antisemitischen Tradition von »dem Juden« als einem abstrakten und festgefügten Wesen zu sprechen: das Geld, das Finanzwesen, der Profit usw.

Ich denke, das Buch hätte in einer kritischen Weise präsentiert werden müssen, mit den nötigen Vorsichtsmaßnahmen. Das ist nicht geschehen. Ganz im Gegenteil. Piper hat auf den Sensationswert gesetzt, und der Autor hat sich leider für dieses Spiel hergegeben.

Welches sind die entscheidenden Punkte Ihrer Kritik an Finkelsteins Pamphlet?

Im Wesentlichen werfe ich Finkelstein zwei Dinge vor. Erstens geht er nicht auf kritische Distanz zu den Schweizer Banken, die er einzig und allein als Opfer eines finanziellen Betrugs betrachtet. Zum anderen verwirft er prinzipiell das Konzept »Erinnerung«, das er als unnütz, leer und trügerisch ansieht. Daraus resultiert ein völlig unhistorischer Ansatz. Die Erinnerung an die Shoah verwandelt sich dann in die Fabrikation eines Mythos oder schlimmer noch einer Ideologie, mit der bestimmte materielle Interessen verteidigt werden: der Staat Israel, die jüdischen Institutionen in den USA usw. Finkelstein erweckt bisweilen den Eindruck, die These von der jüdischen Verschwörung auszugraben.

Die Notwendigkeit einer redaktionellen Bearbeitung des Buches, um Missverständnisse bei der Rezeption in den verschiedenen europäischen Kontexten zu vermeiden, betonten Sie schon früher. Doch nach Ihrer Kritik des Buches stellt sich die Frage: Was bliebe eigentlich von dem Band übrig?

In die betreffenden Kontexte eingeordnet und kritisch präsentiert, hätte dieser Essay eine »heilsame Provokation« werden können. Die politische und nun auch ökonomische Instrumentalisierung der Erinnerung an den Genozid ist eine Realität, sie ist skandalös, und ich wüsste nicht, warum man sie verbergen sollte. Vor 50 Jahren sagten die Kommunisten, dass alle, die den Stalinismus kritisierten, objektive Komplizen des Imperialismus seien. Man hat die langfristigen Ergebnisse dieser Politik gesehen.

Man muss die Wahrheit sagen, so unangenehm sie auch sein mag. Aber man muss auch wissen, wie man sie sagt und an wen man sich damit richtet. Zusammen mit den Faschisten den Gulag zu kritisieren, ist nicht die beste Art, die Erinnerung an die Opfer des Stalinismus zu wahren. In Deutschland ist Finkelsteins Buch ein Objekt der Vereinnahmung für die unangenehmsten politischen Kreise geworden.

Sie gehören dem Kollektiv La Fabrique an, dem Verlag, in dem die französische Übersetzung von »The Holocaust Industry« erschienen ist. Wie diskutiert das Kollektiv die Publikation?

Ich hatte Pierre Vidal-Naquet vorgeschlagen, ein kritisches Vorwort zu dem Buch zu schreiben. Vidal-Naquet ist eine in Frankreich hoch angesehene jüdische Persönlichkeit, Historiker, mutiger Antikolonialist und streitbarer Gegner des Negationismus. Leider lehnte er ab. Das Buch erschien dann mit einem Nachwort, das es einseitig im antizionistischen Sinn interpretiert. Man hätte auf ganz andere Weise eine kritisch-distanzierte Position einnehmen müssen. Das ist nicht geschehen, und ich bedaure dies.

Die Publikation des Buches zog eine ärgerliche juristische Folge nach sich. Eine Gruppe namens »Anwälte ohne Grenzen«, die sozusagen klandestin und nicht identisch mit der offiziell unter diesem Namen bekannten Gruppe ist, hat das Buch der »Aufstachelung zum Rassenhass« und des »Garaudismus« beschuldigt. »Garaudismus« ist in Frankreich die sanfte Version des Negationismus. Niemand hat diese gegenüber Autor und Verlag unsinnigen Beschuldigungen aufgegriffen. Vidal-Naquet schrieb in einem Brief an Libération, dass Finkelsteins Pamphlet, das er als »brutal und dumm« charakterisierte, mit Negationismus und Antisemitismus nichts zu tun habe.