Der Balkan und der Westen

Irre Interessen

Die Nato versucht auf dem Balkan, Fassaden staatlicher Souveränität hochzuziehen, wo am Ende doch nur unbefriedete Protektorate bleiben.

Seitdem die vertraute Konstellation des Kalten Krieges verschwunden ist, hat sich das analytische Denken in die imperialistische Vorvergangenheit verirrt. Die theoretischen Geisterfahrer jeglicher Couleur versuchen, den »geopolitischen« Diskurs aus der Vor- und Nachgeschichte des Ersten Weltkriegs wiederzubeleben, dessen Hintergrund der Kampf nationalimperialer Mächte um globale Vorherrschaft und territoriale Expansion war.

Es wird so getan, als könnte sich der bipolare Konflikt der beiden Supermächte USA und Sowjetunion gewissermaßen zurückentwickeln. Aber der polyzentrische Kampf um die Welthegemonie war beschränkt auf die Epoche einer politischen Konkurrenz der europäischen Nationalstaaten. Dieses Verhältnis hat sich ökonomisch mit dem Fordismus und politisch mit dem Aufstieg der beiden außereuropäischen kontinentalen Supermächte unwiderruflich verabschiedet.

Nach dem Scheitern der staatskapitalistischen Sowjetunion hat sich die bipolare weltpolitische Struktur in einen Monozentrismus der letzten Weltmacht verwandelt. Der Kampf um die globale Hegemonie auf dem Boden des modernen warenproduzierenden Systems ist entschieden. Weder einzeln noch in ihrer Gesamtheit als EU können die europäischen Staaten den Rüstungsvorsprung der USA jemals einholen. Diese Option ist schlicht unfinanzierbar.

90 Prozent der Einsätze in den globalen Ordnungskriegen werden von den federführenden USA getragen, ohne die gar nichts geht. Das Gerede der französischen Grandeur-Phantasten und deutschen »Weltinnenpolitiker« von einer eigenen europäischen »Sicherheitsidentität« ist nicht stichhaltig. Bloß albern ist die antideutsche Edda-Saga vom beginnenden letzten Gefecht zwischen dem auferstandenen Großdeutschland und den USA um die Welthegemonie ausgerechnet im Kosovo.

Zwar zeigen einige wenige radikale Linke wie Thomas Ebermann inzwischen wenigstens so viel analytische Vernunft, dass die ärgsten antideutschen Wirklichkeitsverzerrungen als Abschied »von jeglicher Analyse ökonomischer Kräfteverhältnisse und militärischer Schlagkraft« zurückgewiesen werden (Jungle World, 13/01). Aber Ebermann stellt die Interpretation einer angeblichen Rückkehr nationalimperialer Machtkämpfe trotzdem nicht grundsätzlich in Frage. Es erscheint dann so, als wären Großdeutschland bzw. die EU nur momentan »noch nicht« zur welthegemonialen Herausforderung in der Lage.

Natürlich gibt es weiterhin nationalökonomische Einzelinteressen und nationalstaatliche Eigenmächtigkeiten, aber diese sind nur noch sekundär ohne eigenen strategischen Stellenwert wirksam. Die Nato bildet den politischen und militärischen Rahmen, in den die Sub-Mächte der USA eingebunden sind. Es kann keine Rede davon sein, dass sich ein neuer innerimperialer Interessenantagonismus bis hin zur offenen Konfrontation entwickeln würde, der ja auch ein entsprechendes kulturelles Feindbild zur ideologischen Formierung der Gesellschaften hervorbringen müsste.

Es gibt ein neues Feindbild, jedoch auf einer ganz anderen Ebene. So genannte Schurkenstaaten, kleptokratische Krisenregimes, Gotteskrieger und Ethnobanden sind an die Stelle klar definierter Gegenmächte auf derselben Ebene der Konkurrenz getreten. Was da dingfest gemacht werden soll, sind die Gespenster eben jener Weltkrise, die von der an Grenzen gestoßenen Verwertungslogik selber verursacht ist.

Dass es gegen diese Krisengespenster und nicht gegen Konkurrenzmächte geht, ist aus der weltpolizeilichen Umorientierung der Nato-Militärstrategie ersichtlich. Der demokratische Weltordnungskrieg wird für das paradoxe Ziel geführt, die Welt in einer Form zu erhalten, die für die Mehrheit bereits objektiv keine Reproduktionsmöglichkeit mehr bietet.

Aber weil die Nato gegen die Konsequenzen ihrer eigenen Produktionsweise auf der Entwicklungshöhe der dritten industriellen Revolution kämpft, kann sie diesen Krieg nicht gewinnen. Zwar besiegen die High-Tech-Army der USA und ihre Hilfstruppen regelmäßig die bestenfalls altfordistisch ausgerüsteten Militärapparate der Schurkenstaaten; aber unterhalb ihrer Zugriffsmacht setzt sich unaufhaltsam die endemische Gewalt der Krisenprozesse fort.

Die Weltdemokraten wollen den Charakter der Konflikte ebenso wenig wahrhaben wie die meisten ihrer linksradikalen Kritiker. Wo nichts als ökonomisch verbrannte Erde von Zusammenbruchsregionen existiert, die vom Weltmarkt verheert worden sind, sehen die einen den baldigen »marktwirtschaftlichen Aufbau« und die anderen ein Rangeln um herrenlos gewordene »Einflusszonen« der Kapitalverwertung.

So meinen Ebermann und Co. allen Ernstes, ausgerechnet der Krieg gegen Jugoslawien hätte zur »Beerdigung der Theorie vom Bedeutungsverlust der Staaten« führen müssen, weil »die Weltkonzerne eines ihren Geschäften bahnbrechenden Staates bedürfen, der dabei eben auch anders national fundierten Konkurrenten den Zugang versperrt«. (Jungle World, 13/01)

Tatsächlich geht es nicht darum, irgendeinem »anders national fundierten« Kapital irgendeinen Zugang zu versperren. Ganz im Gegenteil ist das »Offenhalten« der Welt für das transnationale und eben nicht mehr »national fundierte« Kapital das erklärte Ziel. Gerade darin reflektiert sich die Zersetzung der »Souveränität«. Der Staat ist nicht mehr der »ideelle Gesamtkapitalist« eines nationalen Kapitalstocks, sondern Kapital und Staat treten im Krisenprozess der Globalisierung auseinander. Die Interessen der transnationalen Weltkonzerne sind nicht territorial, sondern punktuell; der Staat dagegen bleibt an das territoriale Paradigma gebunden.

Diese neue Widerspruchsebene macht sich auch im Verhältnis zu den Problemregionen bemerkbar. Der Begriff der Außenpolitik wird obsolet, weil es sich weder um das Abstecken von Interessensphären zwischen souveränen imperialen Nationalstaaten noch um eine Beziehung zu untergeordneten territorialen Souveränen handelt. Spiegelbildlich zu den »Staatsbildungskriegen« der frühen Neuzeit haben wir es in den globalen Zusammenbruchsregionen mit einem Typus von »Entstaatlichungskriegen« zu tun.

Krisendiplomatie und mobile Eingreiftruppen können jedoch territoriale Herrschaft nicht ersetzen. Weit davon entfernt, Annexionen etc. nach dem »geopolitischen« Muster imperialer Konkurrenz vorzubereiten, versucht die Nato vielmehr verzweifelt, Fassaden staatlicher Souveränität hochzuziehen und entsprechende »politische« Sicherheitspartner zu finden - um doch stets nur postpolitische Protektorate zu errichten, die unbefriedet bleiben.

Natürlich stellt sich die Frage nach den zugrunde liegenden handlungsleitenden Interessen. Die klassischen Vulgär- und Geomaterialisten wie Trampert und Ebermann sehen eine Art nationalimperialen Goldgräberwettlauf zum kaspischen Meer, wo sich Großdeutschland, die USA usw. um Buntmetalle und die Routen der Ölpipelines einer »modernen Seidenstraße« balgen, während das gottverlassene Kosovo zum »strategischen Sprungbrett« solcher Optionen erhoben wird. Andere Antideutsche wollen in postmoderner Manier überhaupt keine materiellen Interessen mehr erkennen. Für Matthias Küntzel etwa scheint es sich in Überdehnung des gewöhnlichen linken Politizismus um verselbstständigte Handlungsmuster eines schieren »Machttriebes« zu handeln. Bei Bahamas-Autoren wie Uli Krug verwandelt sich der Weltordnungskrieg gar in einen bloßen »Gewissenskrieg«, der nur noch aus dem Seelenhaushalt der Protagonisten zu erklären sei.

Vulgärmaterialismus und Vulgärpsychologismus verkennen gleichermaßen, dass die Materialität kapitalistischer Interessen irrational und die Irrationalität des Kapitalverhältnisses materialistisch ist. Das Wesen kapitalistischer Kriege besteht nicht darin, dass kontrollierte rationale Interessen aufeinanderprallen, sondern dass unkontrollierte gesellschaftliche Widersprüche zu einer Explosion führen.

Der Zugang zu strategischen Rohstoffreserven bildet durchaus ein Interessenmoment, aber eben nur eines unter anderen, das sich nur noch in der Form eines kollektiven Sicherheitsimperialismus äußern kann. Unter den Bedingungen der Globalisierung bildet ferner die Abschottung gegenüber den Krisenregionen und die Eindämmung der Flüchtlingsströme ein eigenständiges materielles Konkurrenzinteresse des kollektiven Wohlstandschauvinismus von westlichen Lohnarbeitern, Management und politischer Klasse.

So spitzen sich zwar die Paradoxien des zum unmittelbaren Weltverhältnis entwickelten Kapitalverhältnisses zu, und die verwildernden Ideologien werden erneut zur materiellen Gewalt; aber die kapitalistische Binnenrationalität und ihre Interessenmotive verschwinden dabei nicht, sondern nehmen nur andere Formen an.

Es kann kaum überraschen, dass die sicherheitspolitische Instrumentalisierung des ethnischen Konstrukts wie im Kosovo nicht aufgeht, sondern nur immer neue Sprengsätze legen kann. Statt jedoch den Verhältnissen ihre unschöne Melodie vorzusingen, haben es die antideutschen Linksradikalen vorgezogen, den wirklichen Prozess in die Geisterschlacht zwischen einer Pax Americana und einer Pax Germanica umzudeuten.

Ironischerweise wurde dadurch gerade der spezifisch deutsche Zusammenhang von äußerer Beteiligung am Weltordnungskrieg und innerer Auseinandersetzung um Immigration und Staatsbürgerschaftsrecht verfehlt. Wegen ihrer verschwörungstheoretischen Fixierung auf einen angeblich von langer Hand geplanten Weltherrschaftsfeldzug Großdeutschlands hat es die radikale Linke versäumt, den brisanten inneren Widerspruch zur Sprache zu bringen.