Verzögerungen der EU-Erweiterung

An der langen Leine

Der Konjuktureinbruch in Polen lässt die Hoffnungen aller osteuropäischen EU-Kandidaten auf einen baldigen Beitritt sinken.

Ratlosigkeit herrscht in Polen, Desinteresse im Westen. Zwar beschwören Politiker aller Couleur nach wie vor das Jahrhundertprojekt des vereinten Europa. Romano Prodi, der Präsident der EU-Kommission, hält die Ost-Erweiterung gar für »die größte Herausforderung unserer gegenwärtigen Geschichte«.

Doch selbst eingefleischte Optimisten verlieren den Glauben an derartige Floskeln. Es wird immer deutlicher, dass die schnelle und vollständige Integration der Beitrittskandidaten in die Union nur wenige Befürworter hat.

Für viele westliche Interessengruppen scheint der Weg das Ziel zu sein, denn gerade eine halbe Integration böte aus ihrer Sicht viele Vorteile. Die gesamte polnische Politik und Wirtschaft ist jedoch auf Europa und Deutschland ausgerichtet. Realistisch betrachtet ist keine andere wirtschaftliche oder geopolitische Option denkbar. Die osteuropäischen Kandidaten befinden sich also in einer ausweglosen Situation. Aus Brüsseler Perspektive ist es in vielen Fällen auch auf längere Sicht reizvoller, dass sie »nicht wirklich dazugehören«, aber von der EU abhängig sind.

So scheint sich die Variante der »ewigen Kandidaten« durchzusetzen, die nicht nur für Polen die schlechteste wäre. Um einen schnellen Beitritt durchzusetzen, fehlen jedoch die Druckmittel. Zudem verschlechtert sich wegen der düsteren Konjunkturaussichten die Verhandlungsposition.

Während Polen noch im letzten Jahr unter den von Unternehmensberatern am höchsten gehandelten Märkten für Risiko-Investitionen rangierte, stürzte die Zuwachsrate des Bruttoinlandsprodukts zum Ende des Jahres 2000 von sechs auf 2,5 Prozent. In den ersten drei Monaten dieses Jahres zeichnete sich sogar eine weitere Abschwächung des Wachstums auf weniger als zwei Prozent ab.

Während die die schwedische Außenministerin Anne Lindh, deren Regierung derzeit den EU-Vorsitz innehat, Ungarn, Tschechien, Slowenien und Zypern Mitte April wegen ihrer Fortschritte lobte, blieb Polen erstmals seit den dreijährigen Verhandlungen mit der EU unerwähnt. Einige EU-Politiker sind inzwischen sogar der Auffassung, der Anpassungsprozess Polens habe sich derart verlangsamt, dass sogar die Position in der ersten Aufnahmerunde gefährdet sei. Eine Woche später, beim inoffiziellen Treffen der EU-Finanzminister vom 20. bis zum 22. April in Malmö, wurde allen Beitrittsländern eine »wachsende Verwundbarkeit« attestiert, falls ihre Regierungen sich »auf eine Finanzierung, die Schulden schafft« einließen.

Die EU hat Angst um ihre Währung. Es ist zwar wenig wahrscheinlich, dass Polen, Ungarn oder Tschechien der Währungsunion vor dem Jahr 2008 beitreten dürfen, aber man glaubt, dass die angebliche »Verostung« des Euro den Wechselkurs schon heute drücken könnte. Die EU-Kommission befürchtet eine Finanzkrise direkt hinter ihrer Ostgrenze.

Der Boom der letzten zwei Jahre in Mittel- und Osteuropa hat auch eine Kehrseite. Das sprunghafte Ansteigen der Importe hat zu großen Löchern in den Handels- und Leistungsbilanzen geführt, die sich nur durch massive Kapitalimporte stopfen lassen. »Wenn das so weiterginge, wäre eine Krise fast unvermeidlich«, fasst Daniel Gros, der Direktor des Centre for European Policy Studies in Brüsssel, die Befürchtungen der EU zusammen.

Wegen der zum Teil großen Wachstumsraten der vergangenen Jahre haben nur wenige einen Stück vom Kuchen abbekommen. »Gerade dort, wo die Erneuerung des Kapitalstocks am grundlegendsten verläuft, kommt es zu signifikanten Erhöhungen der Arbeitsproduktivität und damit zu dem, was oft technokratisch als Abstoß von redundanter Arbeitskraft bezeichnet wird«, sagt Kai-Olaf Lang, ein Mitarbeiter des deutschen Instituts für Internationale Politik und Sicherheit der Stiftung Wissenschaft. Die offizielle Arbeitslosigkeit beispielsweise in Polen liegt derzeit bei über 15 Prozent.

Bisher brachten Investoren aus dem Westen das nötige Geld ins Land, indem sie die ehemaligen Staatsbetriebe kauften, sanierten und rationalisierten. In Slowenien, der Slowakei und vor allem in Tschechien ist noch realsozialistische Konkursmasse zu haben, während in Ungarn, im Baltikum und in Polen das ehemalige Volkseigentum bereits privatisiert wurde. »Stockt jetzt noch die EU-Konjunktur, könnte in der Region manche Volkswirtschaft ins Schleudern geraten«, prognostiziert etwa die Zeit im April .

Ob man in Brüssel tatsächlich glaubt, dass sich diese negativen Einschätzungen bewahrheiten, oder ob sie zur Verhandlungstaktik gehören, ist unklar. Das Resultat ist in jedem Fall, dass die polnische Regierung, die bislang als Hardliner bei den Verhandlungen galt, immer häufiger von ihren Positionen abweichen muss. Die von westlichen Politikern zur Schau getragene Gelassenheit, wenn es um das Beitrittsdatum geht, macht die Polen zu ratlosen Bittstellern oder stürzt sie in ohnmächtige Wut. Vor vier Wochen verschob Staatspräsident Aleksander Kwasniewski das anvisierte Beitrittsdatum offiziell von 2003 auf 2005 und übernahm damit die Prognosen der EU-Kommission. Auch die von der Union vorgeschlagene siebenjährige Frist bei der Freizügigkeit der Arbeitskräfte (Jungle World, 17/01) wäre ein denkbar schlechtes Verhandlungsergebnis.

Im Warschauer Kabinett ist nun ein Streit darüber ausgebrochen, ob sich die Verhandlungen durch einen Verzicht auf Übergangsfristen beschleunigen ließen. Insbesondere beim Umweltschutz, beim Landerwerb und bei den Subventionen für die Sonderwirtschaftszonen hatte die polnische Regierung Übergangsfristen beantragt. Der EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen hat die geforderte 18jährige Übergangsfrist für den Erwerb von Grund und Boden jedoch schon mit der Begründung abgelehnt, sie sei »extrem investitionshemmend«.

Immer häufiger sorgen die Verhandlungen mit der EU für innenpolitische Turbulenzen. Um zu verhindern, dass sich die Verhandlungen verzögern und Polen die erste Erweiterungsrunde verpasst, hatte die Verhandlungsgruppe der Regierung ein Geheimpapier verfasst, in dem der Verzicht auf 20 der insgesamt 41 beantragten Übergangsfristen durchgespielt wird. Doch das Papier gelangte prompt in die Presse. Hektisch ermittelt nun der polnische Geheimdienst UOP, wer für die Indiskretion verantwortlich ist.