Tod eines Flüchtlings in Sachsen

Immer im Dienst

Im April ist ein junger Vietnamese auf der Flucht vor Bundesgrenzschützern an der sächsischen Grenze ums Leben gekommen.

Hier, auf dem Gelände des Asphalt-Mischwerks, ist es geschehen. Da hinten, im Wald, liegt der alte geflutete Steinbruch, erzählt ein Arbeiter. Dort habe man den Mann tot im Wasser schwimmend gefunden. Nein, er selbst wisse von nichts, er wundere sich nur, wie man da reinfallen könne, der Steinbruch sei doch umzäunt.

Der Lärm der Mischanlage lässt sofort nach, wenn man sich in die Nähe des Steinbruchs begibt. Irgendwie scheint der tiefe Graben den Schall zu schlucken. Zwischen den Bäumen, die am Rand des Steinbruchs stehen, sind zur Sicherung zwei Kabel gespannt. Wenn man darüber steigt, wird es gefährlich. An einer Stelle sind die Kabel durchgeschnitten. Das war vermutlich die Feuerwehr, die den Toten abtransportieren musste.

Von hier geht es senkrecht hinunter, acht bis zehn Meter dürften das sein. Unten sieht man Wasser, dessen Tiefe nicht zu schätzen ist. Das muss die Stelle sein: Zwei weiße Einweghandschuhe, wie sie von Rettungssanitätern benutzt werden, liegen noch da. Außerdem die Gebrauchsanweisung einer Rettungsdecke und eine Zahnbürste, original verpackt. »Made in Czech Republic« steht auf der Rückseite. Hier ist der 25jährige Vietnamese auf der Flucht vor der Polizei und dem Bundesgrenzschutz (BGS) am frühen Abend des 18. April verunglückt. »Rücken- und Lungenprellungen aufgrund eines Sturzes aus drei bis zehn Metern Höhe und geringe Ertrinkungserscheinungen«, zitiert die Pressesprecherin der Polizeidirektion Bautzen, Petra Kirsch, aus dem Obduktionsbericht.

Schmölln-Putzkau heißt der Ort im ostsächsischen Grenzgebiet. Ungefähr 40 Kilometer sind es von hier nach Dresden, 20 Kilometer nach Tschechien. Das Asphalt-Mischwerk liegt auf einem bewaldeten Hügel zwischen den beiden Gemeinden, die durch eine holprige, schmale Straße verbunden sind. Die Gegend gehört zu jenem Gebiet, das das Bundesinnenministerium als »Brennpunkt der illegalen Einreise« bezeichnet. Zumindest stiegen hier, im sächsischen Teil der deutsch-tschechischen Grenze, die vom BGS veröffentlichten »Aufgriffszahlen« illegal Eingereister seit 1998 deutlich an.

Im Sommer fliege hier jede Nacht der Hubschrauber des BGS, erzählt eine Anwohnerin aus Schmölln. Das sei laut und manchmal ärgerlich, diene aber, so ihre Meinung, der Sicherheit aller. Von ihrem kleinen Haus kann man auf den Hügel mit dem Asphalt-Mischwerk blicken. Nein, von der Fluchtgeschichte weiß sie nichts zu berichten, da sei sie nicht zu Hause gewesen. Aber andere in der Straße wüssten Bescheid, und natürlich habe man viel darüber gesprochen.

Einer, der sich gut erinnern kann, ist Henri B., 40 Jahre, von Beruf Feuerwehrmann. Es war so gegen 18.30 Uhr, mit einem Freund arbeitete er gerade in seinem Garten. Plötzlich sei ein weißer VW-Transporter, dicht gefolgt von einem Geländewagen, mit hoher Geschwindigkeit auf das abschüssige Feld gegenüber seinem Haus gefahren. Sie hätten erst an Jugendliche gedacht, bis jemand um Hilfe rief. Der Rufende sei einem anderen Mann nachgerannt, habe ihn dann eingeholt und zu Boden geworfen. »Ich habe schon ganz schön gestaunt«, erinnert sich B. Sie seien dann auf das Feld gelaufen, dort sah B., dass der VW-Transporter gegen einen Baum gefahren war. Im hinteren Teil des Fahrzeugs lagen eine Frau und zwei Männer mit zum Teil schweren Verletzungen. Der Feuerwehrmann leistete erste Hilfe, ein anderer Anwohner informierte über Handy die Polizei und rief einen Krankenwagen.

Der Mann auf dem Boden war zwischenzeitlich fachmännisch gefesselt worden. Der Verfolger, bei dem es sich um den Fahrer des Geländewagens handelte, entpuppte sich später als Bereitschaftspolizist. Er trug weder eine Uniform, noch war er bewaffnet, auch hatte er kein Funkgerät oder Handy bei sich. Später wurde B. klar, dass der Mann außer Dienst gewesen sein musste. Es dauerte eine Weile, bis der Krankenwagen, die Polizei und der BGS am Unfallort eintrafen. Der Polizist erzählte B. davon, dass noch mehr Leute im VW-Transporter gesessen hätten, die aber weggerannt seien. »Er wollte, dass ich mit ihm gehe, um die anderen zu verfolgen, das habe ich aber abgelehnt, damit wollte ich nichts zu tun haben.«

Die anderen, das waren sieben Vietnamesen. Bevor der Transporter verunglückte und gegen den Baum fuhr, war es ihnen gelungen, aus dem Wagen zu springen. Was davor geschah, lässt sich den dürftigen Auskünften der Polizeidirektion Bautzen kaum entnehmen. Nur so viel: Auf dem Parkplatz eines Einkaufszentrums in Sebnitz sei dem Bereitschaftspolizisten das Fahrzeug aufgefallen, weil die Zulassung auf dem Nummernschild abgelaufen war. Der Beamte habe sich ausgewiesen und das Fahrzeug kontrollieren wollen. Dazu sei es aber nicht gekommen, da der Transporter plötzlich losgefahren sei. Der Polizist nahm mit seinem privaten Geländewagen die Verfolgung auf.

Rund 30 Kilometer fuhr der offensichtlich vom Jagdfieber gepackte Mann dem mit elf Personen besetzten Transporter nach. Die Jagd führte von Sebnitz über Hohwald nach Steinigwolmsdorf, bis Putzkau und dann Richtung Schmölln. Wegen Bauarbeiten an der Strecke ist der Ort nur über eine Umgehungsstraße zu erreichen. Nimmt man den direkten Weg, wie es der Fahrer des VW-Transporters tat, ist am Ortseingang zu Schmölln die Fahrt zu Ende.

Ebenso ungeklärt wie der Ablauf der privaten Verfolgungsjagd ist der Verlauf dessen, was sich am Abend im Wald um das Asphalt-Mischwerk abspielte. B. glaubt sich erinnern zu können, dass eine Gruppe von ungefähr 20 Polizeibeamten eintraf. Das müsse so gegen 19.30 Uhr gewesen sein, bestätigt eine Nachbarin, die auf die ganze Sache erst aufmerksam wurde, »als die da oben schon gejagt haben«.

Dietmar Kottwitz, der Pressesprecher des zuständigen Bundesgrenzschutzamtes in Pirna, bestätigt, dass sich der BGS »im Zuge der Nachsuche an der Aktion beteiligt« habe. Jedoch will Kottwitz nur von fünf oder sechs eingesetzten Beamten und ein bis zwei Hunden etwas wissen. B. wiederum spricht von mindestens vier Hunden, von großer Aufregung, vom Lärm des Polizeihubschraubers, der immer wieder, bis in die Dunkelheit hinein, über dem Waldstück kreiste. »Wie bei einer Treibjagd ist hier ein Mensch zu Tode gehetzt worden.«

Aber auch zum Verlauf der weiteren Verfolgungsjagd liegen dem Grenzschützer Kottwitz »keine Erkenntnisse vor«. Er verweist auf die Pressemitteilung der Polizeidirektion Bautzen. Darin heißt es lapidar: »Im Rahmen der Suchmaßnahmen durch Kräfte des Bundesgrenzschutzes wurde dann festgestellt, dass ein geflüchteter Vietnamese in einen Steinbruch gestürzt war. Durch diesen Sturz verletzte er sich tödlich. (...) Insgesamt konnten noch fünf weitere Personen gestellt werden.« Ein sechster Flüchtling wurde am nächsten Morgen von einer Polizeistreife in Putzkau aufgegriffen und verhaftet.

Doch auch hierüber wollen die zuständigen Polizei- und BGS-Sprecher keine Auskünfte erteilen. Bei der Polizeidienststelle Bautzen ist zu erfahren, dass weder der Bereitschaftspolizist noch die anderen Beamten sich zu dem Einsatz äußern wollen. Und Hartmut Schindler, leitender Oberstaatsanwalt in Bautzen, sieht »keine Veranlassung, ein Ermittlungsverfahren einzuleiten«. Das heißt, der Fall ist abgeschlossen.

Übrig bleibt ein Toter, von dem die Polizei inzwischen bekannt gegeben hat, dass er identifiziert werden konnte und aus der Provinz Quang Binh in Vietnam kommt. Der tschechische Fahrer des Fluchtfahrzeuges sitzt in Untersuchungshaft. Ihm droht ein Verfahren nach Paragraf 92a des Ausländergesetzes, der die Unterstützung illegaler Einreise unter Strafe stellt.

Bis auf eine Ausnahme wurden die Flüchtlinge am Tag, der auf die Jagd folgte, nach Tschechien abgeschoben. Einer der Vietnamesen, dem es nicht gelungen war, vor der Kollision aus dem Auto zu springen, hatte sich einen Beckenbruch zugezogen und war ins Kreiskrankenhaus Bischofswerda eingeliefert worden. Sechs Tage später holten BGS-Beamte ihn dort ab - zur Abschiebung. Doch die tschechischen Behörden verweigerten wegen gesundheitlicher Bedenken das »Rückschiebegesuch«, wie es im entsprechenden Beamtendeutsch heißt.

Um zu verhindern, dass sich der Vietnamese seiner Abschiebung noch entzieht, sei er nun in einem Haftkrankenhaus untergebracht, erklärt Grenschützer Kottwitz.

Der Autor ist Mitarbeiter der Forschungsgesellschaft Flucht und Migration (FFM).