47. Kurzfilmtage in Oberhausen

Aus der Zeit gefallen

Auf den 47. Oberhausener Kurzfilmtagen machte man die Erfahrung, dass der kurze Film auch sehr lang sein kann.

Kurzfilmer, die sich mit den sozialen Verhältnissen ihrer Länder auseinandersetzen, sind noch nicht ausgestorben, auch wenn einem das manchmal so vorkommen mag. Im internationalen und im deutschen Wettbewerb der 47. Oberhausener Kurzfilmtage überwogen zwar im weitesten Sinn experimentelle Arbeiten. Schaute man mit strengem Blick auf die Wettbewerbsbeiträge, so beschlich einen gelegentlich Beklemmung, angesichts der oft großen Diskrepanz zwischen Form und Inhalt. Manchmal kam es einem sogar so vor, als sei hier die Länge des Abspanns wichtiger als der Film. Gleichwohl kamen die interessanteren Filme in diesem Jahr aus Ländern wie Iran, Bangladesch, Litauen, Ungarn und Russland.

Mit einfachen und doch äußerst ästhetischen Bildern hat Mehdi Boostani ihren Film »Mahkom« (»Verurteilt«) gestaltet. In dem iranischen Beitrag, der ein wenig an Abbas Kiarostamis geniales Kino erinnert, geht eine junge Frau jeden Tag ihren Mann im Gefängnis besuchen. Sie darf ihn nicht sehen, sie weiß nicht, was mit ihm geschehen ist, aber sie beharrt darauf, ihm sein eigenes Essen zu bringen. Der Polizist, mit dem sie spricht, gibt ihr das benutzte Geschirr zurück, aber er sagt nichts über ihren Mann.

Die hellen Filmbilder, sandfarben und hellblau dominieren, stehen im Kontrast zur bedrückenden Ungewissheit. In der Schlusseinstellung geht die Frau allein durch das gleißende Licht der Wüstenlandschaft. Die Kamera schwenkt von ihrem Rücken zurück ins Innere der Polizeistation über geflieste Wände und den leeren Boden. »Mahkom« war einer jener Filme, die in Oberhausen zu Recht einen Preis bekamen. »Durch klare formale Strukturen und mit sparsamen Mitteln fängt der Film Blicke und Gesten ein von Menschen in einer Situation von Unrecht und Ohnmacht. Ein nachhaltiges Plädoyer gegen willkürliche Machtausübung«, begründete die Jury ihre Entscheidung.

»Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen«, heißt es - mit Albert Camus gesprochen - in Jan Verbeeks außergewöhnlichem Kurzfilm »Heute abend«. Der Film zeigt in exakt 16 Sekunden ein nächtlich erleuchtetes Fenster. Auf der Fensterbank steht eine Frau, die das Fenster hingebungsvoll putzt. Mit minimalen Mitteln bringt der kürzeste Film des Festivals das Kunststück fertig, ein Maximum an Inhalt und Zeiterfahrung humorvoll zu transportieren. »Out of Time«, so der Titel der diesjährigen Sonderprogramme, »heißt ja auch, aus der Zeit fallen, so wie man aus der Zeit fällt, wenn man ins Kino geht«, sagt der Festivalleiter Lars Hendrik Gass. Alle Uhren ticken gleich, »aber das subjektive Empfinden für Zeit variiert heute von unerträglichem Überfluss bis zur extremen Verknappung«.

Ob kurz oder lang, der Film drückt der Zeit sein eigenes Gepräge auf. Film, das ist die Organisation von Bildern in der Zeit: Zeit raffen, dehnen, rückwärts laufen lassen oder mehrere Zeitebenen parallel erzählen. Für den Film ist das alles kein Problem. In den gelegentlich völlig überfüllten Festivalkinos Lichtburg, Gloria und Sunset hielten die Kurzfilmtage mit rund 450 internationalen Beiträgen in sechs Tagen extreme Zeiterfahrungen bereit.

So skurrile wie die auf 15 Minuten komprimierte Fassung von D.W. Griffith' dreistündigem Epos »Intolerance« oder Stummfilme des frühen Kinos, die den Geschwindigkeitsrausch Anfang des vergangenen Jahrhunderts bezeugen: »Wie fühlt es sich an, überfahren zu werden?« Zu sehen war auch Ernie Gehrs »Eureka«, der eine fünfminütige Kamerafahrt mit einer Straßenbahn durch das San Francisco des Jahres 1903 auf 30 Minuten dehnte.

Allein das Rahmenprogramm lohnte wieder einmal den Weg ins Ruhrgebiet. Historische Werbe- und Industriefilme schlossen alltägliche Aspekte vergangener Zeiten auf. »Frauen für leichte Arbeit gesucht« beispielsweise, ein von der Industrie 1962 in Auftrag gegebener Lehrfilm, zeigt Frauen beim Wäschewaschen mit Luftschläuchen im Mund und »Respirationsmessuhren« auf dem Rücken, die den Kraft- und Energieverbrauch messen. »Waschmaschinen sparen Kraft und Zeit«, erläutert eine Off-Stimme, die sich einmal zu der Behauptung versteigt, dass das Rechnen dank elektrischer Rechenmaschinen zur »leichten Frauenarbeit« geworden sei.

Unter dem Titel »Tick tock, tick tock, I'm free to have fun all around the clock!« liefen zahlreiche historische Industrie- und Werbefilme, die mit ihren schillernden Versprechen auf Zeitökonomie technische Haushaltsgeräte anpriesen und die heute einen hohen Unterhaltungswert besitzen. Herbert Schwarze, Mitkurator des Sonderprogramms, dem aus der hitorischen Distanz manches lächerlich erscheint, sieht im Zeitversprechen »die zentrale Botschaft der Werbung für Haushaltsgeräte von den Anfängen bis heute«.

Zeiterfahrung und -wahrnehmung standen im Mittelpunkt vieler Wettbewerbsbeiträge. In dem neuseeländischen Beitrag »The Waiting Room« macht Ian Hughes eine schmerzliche Zeiterfahrung vor einer kafkaesken Bürokulisse deutlich. Mit einem süffisanten »Will you wait?« wird ein zu einer aufrufbaren Nummer degradierter Mann über Frühling, Sommer, Herbst und Winter vertröstet, und das Warten wird zur Tortur.

In vielen Kurzfilmen schrumpft das menschliche Leben auf Bruchteile von Sekunden zusammen. So auch in Wim Vanderkeybus surrealistischem Ensemblefilm »In as much«, der in 14 Minuten die Lebenszeit einer Gruppe von Menschen durcheinanderbringt. Der belgische Wettbewerbsbeitrag versammelt Kinder, Jugendliche, Erwachsene und Alte in einem Raum, während in einem Nebenraum eine Frau ein Kind gebärt. Ein Greis hält den Säugling, der innerhalb weniger Augenblicke alle Altersstufen durchläuft, Kind, Jugendlicher, Erwachsener, bis der Greis schließlich einen weiteren, durchaus gut gelaunten Greis in den Armen hält.

Jos Stelling beschäftigt sich in »The Gas Station« mit der verlorenen Zeit im Stau auf der Autobahn. Der Meister des wortlosen Films versucht hier einen müden Macho mit einem selbstbewussten Girlie zu verkuppeln. Im Stop-and-Go entbrennt eine Schlacht der Blicke, bei der es prompt zu einem Crash mit unfreiwilligem Seitenwechsel kommt.

Der schwedische Count-down »To be continued« von Linus Tunström ist eine humorvoll inszenierte Etüde über parallel montierte Handlungsabläufe mit unvorhersehbaren Wendungen. Spannung und Witz entstehen aus den möglichen Querverweisen zwischen den einzelnen Strängen und einer tickenden Eieruhr. Eine Frau bereitet ihrem Mann das Frühstück und telefoniert, eine andere Frau empfängt ihren Liebhaber, ein Mann kommt nach Hause, ein Schlüssel dreht sich in einem Sicherheitsschloss, eine Zeitbombe tickt, ein Puppenwagen rollt eine Treppe hinunter, ein kleines Mädchen versucht ihn einzuholen, bekommt eine Ohrfeige und wird von Amor mit Pfeilen beschossen.

Oksana Auruskeviciene aus Litauen zeigt in »Mama« ein Kind in unglaublichen, schockierenden Wohnverhältnissen. Der Kampf der Hausbewohner gegen unliebsame Nachbarn entbehrt indessen nicht einer gewissen Komik. »Dort, wo ich gedreht habe, ist alles ganz genauso, wie im Film«, sagte die Regisseurin bei der Vorstellung ihres Dokumentarfilms in der Lichtburg, und tatsächlich gelingt es Oksana Auruskeviciene, ihre Protagonisten weder vorzuführen noch bloßzustellen.

Kornèl Mundruczó inszeniert mit »Afta« (»Tag für Tag«), der ebenfalls unter dem Stichwort »Grenzverletzungen« lief, einen heißen Tag in einer kleinen Stadt. Für einen Jugendlichen eskaliert unmerklich das Spiel zwischen Sexualität und Gewalt mit dramatischen Folgen. »Der junge Schauspieler Tamás Polgár drückt auf brillante Weise aufgestaute Aggressivität, unterdrückten Sexualtrieb und Wut aus, die am Ende des Films über uns hereinbrechen«, heiß es in der Begründung der Jury zum europäischen Arte-Kurzfilmpreis.

»Für mich ist es unabdingbar, das Normale auf verfremdete Weise zu zeigen«, hat Robert van Ackeren einmal in einem Interview gesagt. Dem Regisseur der »Flambierten Frau« war mit vier Kurzfilmen aus den Jahren 1965 bis 1972 ebenfalls ein Sonderprogramm gewidmet. Hier galt es in der reizvollen Mixtur aus historischem Dokument und fiktiver Handlung einen Kult-Regisseur neu zu entdecken. »Wham. Fortsetzung folgt« (1965), ein experimenteller Krimi, spielt mit dem Genre, während »Ja und Nein« (1968) mit Momentaufnahmen der 68er-Befindlichkeit daherkommt. Henry, ein Flaneur der guten Gelegenheit, pumpt sich Geld und Autos, möchte verreisen und tut es doch nicht. In der Jukebox wählt er immer wieder dasselbe Stück, eine Blondine im Minirock-Kostüm klaut in einem Plattenladen eine Single, ein Kellner redet, bewegt sich und sieht aus wie John Lennon, in einer Disco wird getanzt.

Geld, Zufälle und Frauen sind die Ingredienzen dieses Kinos, das den Regisseur 30 Jahre danach als einen überraschend zeitlosen Cineasten präsentiert.