Sonnenbrillen

Die Schönheit unserer Welt

Wir tragen Sonnenbrillen im Sommer und im Winter, im Park und auf der Party. Sie verbinden uns mit der Welt und schützen uns vor ihr.

Manchmal am Anfang des Sommers, wenn man mit seiner Sonnenbrille am Berliner Landwehrkanal entlanggeht oder auf Pollern sitzt und das Geschehen anschaut, wird man plötzlich enthusiastisch und denkt, dass es toll wäre, wenn jeder eine schicke Sonnenbrille hätte. Es wäre großartig, wenn Kinder schon mit Sonnenbrillen auf die Welt kämen; sie können sie sich aber auch nach der Geburt aufsetzen. Das Gespräch zwischen Eltern und Kindern, Vorgesetzten und ihren Untergebenen, liefe viel besser, ohne diese lästigen Niveauunterschiede von oben und unten, wenn alle immer Sonnenbrillen trügen. Wie schön wären zum Beispiel Sitzungen beim Psycho, wenn Arzt und Patient Sonnenbrillen tragen würden. Auch die Politiker und Verbandsfunktionäre sollten dringend Sonnenbrillen tragen, je zwielichtiger, desto besser. Überhaupt sollte die Vergabe irgendeines Amtes immer mit dem Zwang verbunden sein, eine Sonnenbrille zu tragen.

So denkt man manchmal am Anfang des Sommers; in einer Zeit also, in der die Sonnenbrille, die man aufhat, vor allem osmotische Funktionen wahrnimmt. Auf der einen, der Augenseite, sind noch die verletzlichen Reste depressiver Wintergedanken und schockierender Frühlingsunfähigkeiten; auf der weltzugewandten Seite der Sonnenbrille ist Berlin im Frühsommer. Auf der weltzugewandten Seite der Sonnenbrille kiffen zwei Türken am Rande des Landwehrkanals, ist das Gras der Hasenheide noch grün, sieht das vor kurzem noch gehasste Berlin aus dem zehnten Stock eines Hochhauses am Hackeschen Markt aus ... wie eine schöne Stadt im Sommer.

Im großen und ganzen reflektiert die Sonnenbrille die Welt; in kleinen Dosen sickert die Sommerwelt durch die Sonnenbrille hindurch und verdrängt die trüben Gedanken oder verleiht ihnen Stil, so Nick-Cave-mäßig. Völlig verspiegelte Sonnenbrillen sind jedenfalls nicht so gut, weil sie über die Reflexion nicht hinauskommen.

Vor ein paar Tagen in der Hasenheide war es sehr angenehm, eine Sonnenbrille aufzuhaben. Da gesellte sich ein schwankender Mann zu mir und fragte mich, ob ich ihm Haschisch schenken könnte. Er brauche das. Während er sprach, rückte er immer näher. Mal wollte er was für eine Tüte haben, mal ein paar Kilo. Oder: Ob ich ihm nicht zwanzig Mark schenken könnte. Oder wenigstens zehn. Eventuell eine Mark. Er sprach ununterbrochen auf mich ein; wenn ich ihm jetzt Haschisch schenken könnte, gehe es ihm gleich besser. Er habe eine Hirnhautentzündung, deshalb brauche er das. Dann gehe es seinem Kopf gleich besser. Warum ich kein Haschisch habe, wenn ich hier in der Hasenheide sitze, fragte er; warum ich kein Geld habe; ich hätte doch Zigaretten, die hätte ich doch irgendwie bezahlen müssen. Nebenbei erzählte er noch, dass er weder Frau noch Wohnung habe und in der Hasenheide lebe.

Ich war froh, dass ich eine Sonnenbrille aufhatte, denn so konnte ich seine Augen beobachten, während die Bewegungen meiner Augen, mit denen ich übervorsichtig manchmal darauf achtete, was seine Hände machten - er hätte ja ein Messer ziehen können, man weiß ja nie -, versteckt blieben. Irgendwann gelang es mir, mich von ihm loszueisen. Zum Abschied rief er mir nach, das nächste Mal solle ich Haschisch mitbringen, oder das nächste Mal habe er Haschisch dabei, und das könne er mir dann verkaufen.

Am schönsten waren die Sonnenbrillen im November auf einer Party. Wir saßen auf dem Sofa und waren dichter als die anderen, die in der Gegend herumstanden oder am Tisch saßen. Um die exklusive Schönheit unseres Weltempfindens zu betonen, setzten wir uns Sonnenbrillen auf. Jemand fing grinsend damit an, und die anderen machten mit; die Sonnenbrillen betonten die Freundschaft, die wir in dieser Nacht füreinander empfanden, und jemand sagte dann, Sonnenbrillen sind Attribute. Darauf war ich noch gar nicht gekommen, und das leuchtete mir völlig ein. Das Wort klang auch so großartig: Attribut. Es hatte so eine liebenswerte Ironie in sich. Es schien eine ganze leicht existenzialistische Lebensphilosophie in sich zu tragen, die davon weiß, dass wir einander und uns selber wieder fremd sein werden, wie wir es zuvor auch waren und dass das auch nicht weiter schlimm ist; nur jetzt hatten wir eben gerade ein paar Stunden, in denen wir zusammen da waren.

Unsere Sonnenbrillen sahen stimmiger aus als wir selbst, aber wir sahen besser aus in diesem Kontrast. Mit Sonnenbrillen betonten wir unsere Objektseite. Wir ziehen das an, und sind dann jemand anders und denken uns hinter Sonnenbrillen in der Nacht, auf dieser komischen Party, unseren Teil, und die anderen sollen doch denken, was sie wollen.

Es gab mehrere Attribute in dieser Nacht, Uhren, eine Lederjacke, eine Zigarette im Mundwinkel, doch das Königsattribut war die Sonnenbrille. Wir waren jeder, und jeder hatte eine Sonnenbrille. B. hatte eine RayBan-Pilotenbrille und lächelte wunderbar; K. hatte eine dunkle, eigentlich viel zu große schwarze Sonnenbrille, die prima zu ihrem hellen Teint passte, H. sah mit seiner Sonnenbrille einfach nur perfekt aus.

Dass es auf seiner sichtbaren Seite keinen Widerspruch zu geben schien, zwischen den Attributen, die er trug und ihm selbst, wirkte dabei auch fast wieder so leicht ironisch. Ich hatte eine Sonnenbrille auf, die irgendwie noch die Hitze in sich trug von dem Nachmittag, an dem ich sie mir in einem Vorort von Bangkok gekauft hatte. Und in dieser goldgeränderten Randolph-Sonnenbrille war auch noch der höfliche arbeitslose Lehrer drin, der an der Mole von Nonthaburi auf Touristen wartete, um sie durch die Klongs zu fahren. So waren wir durch unsere Attribute mit der Welt verbunden, und als es dann wieder hell wurde, konnten wir uns hinter unseren Sonnenbrillen vor den Zudringlichkeiten der Welt schützen.

Am Tag wiesen unsere Sonnenbrillen einerseits darauf hin, dass wir in der Nacht tolle Dinge erlebt hatten, und schützten andererseits unsere müden Augen vor dem grellen Licht des Tages und den Blicken derer, für die der Tag gerade begann, und ich dachte an einen Nachmittag vor ein paar Jahren, als ich mit Bekannten aus der Technodrogenszene vor einer Kreuzberger Bar in der Sonne gesessen hatte. Die Bekannten hatten alle übergroße Kindersonnenbrillen auf und tranken Bier und redeten entsetzt von Handys, die man via Satellit orten könne, und dass das ja auch dem tschetschenischen Präsidenten Dudajew zum Verhängnis geworden sei, weil sein Handy russischen Raketen den Weg ins Ziel gewiesen habe. Und ich dachte: Die nehmen ja doch am Tagesgeschehen teil.

Um Sonnenbrillen zu tragen, muss es nicht unbedingt Sommer sein, denn Sonnenbrillen sind keine kurzen Röcke, die im Winter nicht richtig funktionieren; Sonnenbrillen sind auch keine Schlittschuhe, die im Sommer auch nicht gehen, obgleich eine Freundin erzählte, ein anderer Freund habe ihr Kinderschlittschuhe für die Nichte einer Bekannten aus Sambia - glaube ich - gegeben. Und das war dann auch wieder so ein Missverständnis, von dem sie immer gerne erzählt, weil das so schön multikulturell ist, denn der Bekannte mit den Schlittschuhen ist Pole und seine Oma - ach, was soll's.

Ich bin vermutlich nur darauf gekommen, dass die Nichte der Bekannten meiner Freundin aus Sambia kommt, weil ich im Sommer immer in den Samba-Trainingsschuhen von Adidas herumlaufe. Und die Samba-Turnschuhe erinnern mich an Sonnenbrillen, weil sie schwarz sind.