Der Balkan und der Westen

Unendlicher Regress

Die Balkan-Kriege sind nicht das Ergebnis rationaler Politik. Westliche Politiker begreifen das ebenso wenig wie ihre linksradikalen Kritiker.

Die derzeitige Diskussion über die Balkan-Politik in Jungle World hat etwas von den allgegenwärtigen »Debatten« in der bürgerlichen Presse. Innerhalb kürzester Zeit entsteht eine Polarisierung, die für alle weiteren Teilnehmer die Alternativen vorstrukturiert. Wer hat Recht? lautet dann schlicht die Frage. Ist es Robert Kurz, der die Interventionen der westlichen Staaten unter der unangefochtenen Führung der USA auf dem Balkan für einen »kollektiven Sicherheitsimperialismus« hält, für den Kampf des Westens gegen die Gespenster seiner eigenen Krise? Oder sind es die Antideutschen und zuletzt Klaus Thörner, die auf dem Balkan einen Kampf um Einflusssphären wie aus dem 19. Jahrhundert toben sehen, wobei ein deutsch dominiertes Europa die US-Amerikaner herausfordert?

Tatsächlich handelt es sich zu einem bedeutenden Teil um eine Scheinauseinandersetzung, die weit mehr mit dem symbolischen Universum der hiesigen linken Öffentlichkeit zu tun hat als mit dem Balkan. Zudem wird hier anhand von Widersprüchen, die vielleicht auch als Ergänzungen verstanden werden könnten, polarisiert.

Im Zentrum der antideutschen Kritik steht selbstverständlich immer Deutschland. So erkannte Matthias Küntzel in Joseph Fischers Bemerkung über die »offene albanische Frage« gleich die nächste Stufe im deutschen Generalplan zur ethnischen Aufsplitterung des Balkans.

Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Bundesrepublik wegen ihrer weiterhin völkischen Staatsauffassung gerade zu Beginn der jugoslawischen Krise das Selbstbestimmungsrecht der Völker hochgehalten hat. Ebenso kann kein Zweifel daran bestehen, dass es stets besondere Beziehungen zu Kroatien gab. Doch letztlich wurde der Zerfall Jugoslawiens von den lokalen Akteuren betrieben, deren Auffassung von der Nation sich zu einem bedeutenden Teil aus den Schriften Herders speiste. Zudem hatte die massive Reaktivierung der Ethnizität viel zu tun mit der verheerenden Wirkung der IWF-Programme, die dem krisengeschüttelten Jugoslawien während der achtziger Jahre auferlegt wurden. Doch darüber wird heute erstaunlicherweise kaum mehr gesprochen.

Was nun Großalbanien betrifft, so wären die Deutschen wohl derzeit die einzigen, die ein solches Gebilde wollen. Es ist verwunderlich, dass hierzulande auch in den bürgerlichen Medien so viel über Großalbanien oder über Großkosovo gesprochen wurde, obwohl seit geraumer Zeit vor Ort niemand danach verlangt - weder der albanische Staat noch bedeutsame Kräfte im Kosovo. Und nicht einmal die mazedonische UCK: In keinem ihrer Kommuniqués war jemals von einer Verschiebung der Grenzen die Rede.

Tatsächlich ist Albanien wenig mehr als der Name eines Territoriums, denn das Land ist zutiefst arm und völlig fraktioniert. Von einer starken nationalen Identifikation der Bevölkerung kann keine Rede sein. Zudem könnte sich die albanische Regierung weder eine Konfrontation mit Griechenland noch mit dem Westen leisten.

Im Kosovo lebt der überwiegende Teil der Bevölkerung heute von westlichen Hilfsgeldern, den Zuwendungen der Migranten in Deutschland und Österreich oder vom illegalen Waffen-, Drogen- und Frauenhandel. Und in den hauptsächlich albanisch besiedelten Teilen Mazedoniens ist es ähnlich. Aber dort ist es immer noch besser als in Albanien selbst - wer wollte also den Anschluss fordern? Offenbar traut man Deutschland jederzeit die »Interessenspolitik« von 1943 zu, als Albanien und Kosovo vom Reich zwangsvereinigt wurden.

Viele der am Schreibtisch herbeiphantasierten Verschwörungen würden sich vielleicht relativieren, wenn die Recherche nicht in der FAZ oder im Web stattfände, sondern vor Ort. Nur aus sicherer Entfernung scheinen so absurde Behauptungen möglich wie jene von Thörner, der Bosnien als zukünftige deutsche »Billigtourismus- und Freihandelszone« imaginiert. Im Angebot: Der Alptraum - eine geile Reise durch die zerstörten Dörfer der Föderation. Die Krönung: Kaffee und Kuchen in den Ruinen von Mostar.

Aus mangelndem Kontakt mit jeder Realität ergeben sich im übrigen auch bekannte antideutsche Gegenidentifikationen mit Serbien, wie man sie etwa von Jürgen Elsässer kennt. Der scheute sich weder, Mihajlo Markovic, einem ehemaligen Praxis-Philosophen und späteren Parteigänger Milosevics, in einem konkret-Interview als vernünftigen Mann zu präsentieren, noch seine eigenen Artikel von Politika nachdrucken zu lassen, dem Zentralorgan des Milosevic-Regimes.

Während noch der kleinste Schritt nach rechts zu Hause sofort geahndet wird, darf man im Sinne des Antideutschen in anderen Ländern autokratische Regimes der übelsten Art unterstützen und der lokalen Opposition ins Gesicht spucken. Das linke Publikum strömt weiter in die Veranstaltungen, der Autor gilt ja als »kontrovers«. Und der Balkan ist nicht mehr als eine abstrakte Spielmarke im eigenen Kosmos.

Robert Kurz kommt der Wirklichkeit an manchen Stellen näher. Allerdings ist seine These schlicht das Ergebnis geistiger Plünderung. Es gibt nichts darin, was nicht bereits in den neunziger Jahren von anderen differenzierter formuliert worden wäre. Ein rationales Interesse des deutschen Staates an »Einflusszonen« wie Bosnien oder Kosovo jedenfalls scheint mir auch nicht auffindbar.

Die wahrscheinlichste These über die Interventionsgründe kam von Helmut Dietrich und Harald Glöde. Sie beschrieben in ihrem Buch »Kosovo - Der Krieg gegen Flüchtlinge« detailliert, wie sehr zumal der europäische Militäreinsatz durch die Angst vor »Flüchtlingsströmen« motiviert wurde. Mit größter Wahrscheinlichkeit war dieser Krieg nicht das Ergebnis vulgär-materialistisch aufgefasster Interessen, sondern er wurde durch das herrschende Phantasma der europäischen Sicherheit ausgelöst.

Darin bündeln sich verschiedene Funktionen und Effekte. Zum einen handelt es sich zweifelsohne um den Kampf gegen Zerfallserscheinungen, die durch eine vom Westen betriebene neoliberale Politik verursacht wurden - siehe die Wirkung der IWF-Programme auf Jugoslawien. Allerdings werden die Gefahren sowohl vom Staat als auch von den Medien völlig übertrieben. Perfide genug, sorgt die ständig geschürte Dauerpanik wegen Kriminalität und Einwanderung zum anderen für eine Integration im Inneren, die seit der Demontage des Wohlfahrtsstaates symbolisch wird. In der Abwehr von »Fluten« und »Chaos« rücken die nationalen Öffentlichkeiten zusammen.

Zudem enthält dieses Phantasma die Idee der eigenen Allmacht, was die Stabilisierung und Kontrolle der Krisenregionen betrifft. Diese Vorstellungen von Omnipotenz scheitern an der Realität vor Ort. Schlimmer noch, sie verschärfen endemische Konflikte.

Weder die Situation in Bosnien noch jene im Kosovo sind das Ergebnis rationaler Politik. Wie wenig klare Vorstellungen die Balkan-Politik bestimmen, das hat soeben wieder das Verhalten der europäischen Regierungen während der Krise in Mazedonien gezeigt. Die westlichen Politiker beweisen immer wieder aufs Neue, dass sie die Situation auf dem Balkan ebenso wenig begreifen wie ihre linksradikalen Kritiker, die sämtlichen politischen Bemerkungen und Handlungen Sinn und Verstand unterstellen. Allerdings wird durch das Scheitern der angeblichen Bemühungen um Stabilität am Ende genau jene Instabilität erzeugt, die im Westen das Verlangen nach Sicherheit noch weiter erhöht - unendlicher Regress.

Das ehemalige Jugoslawien erscheint als Zerrspiegel. Immer ist Europa gleichzeitig voraus und hoffnungslos hinterher. Tatsächlich war Slobodan Milosevic einer der ersten Politiker, der eine nationalistische Politik der Angst betrieb, um sein sozial auseinanderfallendes Volk zu integrieren. Ab 1987 stilisierte er die serbische Nation zum Opfer und kreierte in steter Folge neue Bedrohungen, beginnend mit dem Phantasma der Kosovo-Albaner, die angeblich die Speerspitze einer muslimischen Invasion darstellten.

Milosevic war einer der ersten »ethnopolitischen Unternehmer« - ein Typus, die sich auf dem Balkan derweil immens vermehrt hat. Es handelt sich um Leute, welche die ethnische Karte ausspielen, um ganz andere Ziele zu erreichen. Auch die mazedonische UCK scheint aus solchen »Unternehmern« zu bestehen. Mitte letzten Jahres wollte die mazedonische Regierung den Visumzwang für Reisen in die EU loswerden. Also hat sie die Grenzen stärker kontrolliert, um dem europäischen Phantasma der illegalen Einwanderung zu begegnen. Dabei wurden offenbar die Routen des Drogenhandels gestört, der hauptsächlich von Albanern in einer Art »Freihandelszone« zwischen Albanien, Kosovo und Mazedonien betrieben wird. So deutet vieles darauf hin, dass diese neue UCK die ethnische Karte schlicht mit dem Ziel der Destabilisierung spielt, denn sie will ihre Vertriebswege offen halten.

Selbstverständlich will ich hier nicht das übliche Bild des kriminellen Albaners aufrufen. Tatsächlich nutzen hier nur Menschen die Chance, in »ökonomisch verbrannter Erde« Geld zu verdienen. Das Grundproblem ist die entsetzliche wirtschaftliche Situation auf dem Balkan, wo ein »normales« Leben als Luxus gilt. Jeder pragmatische Vorschlag zur Verbesserung dieser Lage sollte erwogen werden. Ich habe im ehemaligen Jugoslawien zu viele Dreißigjährige getroffen, die aussehen wie sechzig. Ich bin nicht zynisch und rechthaberisch genug, um mich auf den Zusammenbruch zu freuen.