Der Balkan und der Westen

Integration auf neuer Stufe

Die Jugoslawien-Kriege weisen auf die Wiedergeburt einer deutschen Sonderform aus dem Geist der westlichen Universalisierung hin.

Aus Auschwitz kann man nicht lernen, und niemand, indem er antistaatlich und antivölkisch ist und die beiden essenziellen Bestandteile der Genoziddefinition damit vermeidet, ist aus dem Schneider.« Ilse Bindseil hat das anlässlich des Kosovo-Krieges über »die Geburt der internationalen Staatengemeinschaft aus dem Geist von Auschwitz« geschrieben (Streifzüge, 2/01). Die Autorin, die innerhalb der Linken immer schon durch provokative Selbstreflexion hervorstach, wollte damit ihren Vorbehalt gegenüber bestimmten Argumenten der antideutschen Kriegsgegner artikulieren.

Wir müssten uns an die »keineswegs mehr junge Behauptung erinnern, der Nationalsozialismus sei kein Rückfall, sondern ein Vorgriff, ein Modernisierungsschub, ja vielleicht sogar in wesentlichen Momenten eine Antizipation gewesen, an deren Realisierung wir immer noch, wenn auch unbewusst und unfreiwillig arbeiten«. Demnach sei Auschwitz »die zur Bestialität entartete Sonderform eines Universalismus« gewesen, dessen eigentliche Stunde sozusagen erst heute schlägt. Es habe »daher unendlich wenig Sinn, wenn wir zum Zweck einer wie auch immer gearteten Unterscheidung, im abgrenzenden oder im vereinnahmenden Sinn auf Auschwitz verweisen: im Bann von Auschwitz handeln wir allesamt, mit seiner kleinschrittigen Ausführung ... sind wir ausnahmslos befasst.«

Der Artikel richtete sich also ebenso gegen die Gleichsetzung von Hitler und Milosevic, die der so genannten Staatengemeinschaft dazu diente, den Krieg zu legitimieren, wie dagegen, in dieser Gleichsetzung ein Mittel Deutschlands zu sehen, den »Griff nach der Weltmacht« zu wiederholen. Ilse Bindseil schließt offenkundig aus, dass sich vor dem Hintergrund von Auschwitz überhaupt noch zwischen der Staatengemeinschaft und Deutschland differenzieren lässt.

Die Behauptung ist tatsächlich nicht neu. Es gab sie in unterschiedlicher Ausprägung etwa bereits innerhalb der Kritischen Theorie, bei Adorno und Horkheimer, oder auch in der »negativen Anthropologie« von Günther Anders; und es gibt sie heute wiederum in der politökonomischen Form der Krisis-Gruppe. Ernst Lohoff formulierte vor kurzem »Deutschland ist überall«: das deutsche Erbe sei längst zum westlichen Gemeinbesitz geworden; »Muster, die ursprünglich der besonderen deutschen Ideologie entstammen, werden verstärkt verallgemeinerungsfähig.« (Streifzüge, 2/00)

Dass »Deutschland ist überall« eben zugleich auch »Deutschland ist nirgendwo« bedeutet, darauf macht Robert Kurz die Probe, wenn er den Universalismus mit der US-Hegemonie identifiziert und darin ein für allemal festgeschrieben sieht: »Der Kampf um die globale Hegemonie auf dem Boden des modernen warenproduzierenden Systems ist entschieden.« Was nun folge, sei die Zersetzung der »Souveränität« überhaupt: Kapital und Staat treten im Krisenprozess der Globalisierung auseinander.

In Jugoslawien ginge es darum auch nicht mehr - wie die Antideutschen immer noch meinen - um das Abstecken von Interessenssphären zwischen souveränen imperialen Nationalstaaten, sondern um »Entstaatlichungskriege« in Krisenregionen. Die Nato versuche »verzweifelt«, Fassaden staatlicher Souveränität hochzuziehen, »um doch stets nur postpolitische Protektorate zu errichten, die unbefriedet bleiben«, so Kurz.

Mark Terkessidis sieht ebenfalls ein Scheitern an der jugoslawischen Realität »vor Ort«. Während aber Kurz darin den Wahnsinn des Ganzen erkennt, der nur mit dem Ganzen abgeschafft werden kann, hält Terkessidis »jeden pragmatischen Vorschlag zur Verbesserung dieser Lage« für erwägenswert. Kein Wunder, dass er endet, als wäre die entsprechende Verhandlung des Kriegsverbrechertribunals schon eröffnet, und in Milosevic »einen der ersten« agnosziert, »der eine nationalistische Politik der Angst betrieben hat«. Die Fehlleistung mit der falschen Einzahl im Nebensatz zeigt, wie sehr es dem Autor letztlich darauf ankommt, einen einzigen Schuldigen, den Schurken eben, auszu-machen.

Dabei erweist sich doch der auf einem bestimmten Niveau weiterschwelende Krisenprozess durchaus im Pragmatischen als funktional, dient etwa der Staatengemeinschaft als nützliche Trainingsmöglichkeit und ausgelagertes Übungsgelände von Militär und Verwaltung - mit den zur Rückkehr gezwungenen Flüchtlingen als Manövriermasse.

Dem Paradigma der Globalisierung folgend wäre die Einheit von universaler Form und Sonderweg, westlicher Demokratie und deutscher Volksgemeinschaft, die für die Zeit der beiden Weltkriege noch Geltung hatte, vollständig in eine universale Form verwandelt, die keines Sonderwegs mehr bedarf, in eine westliche Demokratie, der die deutsche Volksgemeinschaft umso mehr zum Schreckbild dient, als sie selbst deren Erbe antritt. Fichte hätte hier also über Hegel den Sieg davongetragen: die »reine Einheit«, worin von der Entgegensetzung abstrahiert ist, behauptet sich gegenüber der »Identität von Identität und Nichtidentität«, gegenüber der dialektischen Abstraktion, die nur dadurch ist, dass sie mit dem in Beziehung steht, wovon abstrahiert wird.

Wenn es für diesen Begriff der Universalisierung in der Kritischen Theorie selbst einige Ansatzpunkte gibt - etwa das »Ticketdenken« in der Dialektik der Aufklärung -, so wird ihm dort ebenso widersprochen und das Nichtidentische eingeklagt - nicht als der unverdinglichte Rest, den es zu retten gäbe, sondern als etwas, wovon bei Strafe des Untergangs der Kritik nicht abstrahiert werden kann. Dialektik, heißt es da, sei »das Bewusstsein von Nichtidentität durch Identität hindurch«; das Verfahren, »um des einmal an der Sache erfahrenen Widerspruches willen und gegen ihn in Widersprüchen zu denken«.

Jener Auffassung von Universalisierung widerspricht aber vor allem Adornos kategorischer Imperativ, alles zu tun, dass Auschwitz nicht sich wiederhole. Setzt sie doch voraus, dass Auschwitz sich nicht wiederholen kann - oder dass es sich, wenn auch in anderer Form, zu wiederholen nicht aufgehört hat. Dem kategorischen Imperativ gemäß wäre aber die Universalisierung als eine zweischneidige Befreiung von Auschwitz zu denken, eine, die zwar das Massenmorden beendet hat, aber zugleich die Voraussetzungen dafür bewahrt, dass es sich wiederholen kann. Dem Imperativ gemäß zu denken hieße, jederzeit damit zu rechnen, dass die Einheit von Universalisierung und Sonderform ein neues Auschwitz hervorbringt.

Eine andere Frage ist, welches Handeln daraus zu folgen hätte. Und hier hat Ilse Bindseil den Kern der Ohnmacht offen gelegt, über den antideutsch gerne hinweggeredet wird. Wer hat je so gehandelt, wie der kategorische Imperativ nach Auschwitz es erfordert?

In Klaus Thörners Antwort auf Robert Kurz wird nun beim Namen genannt, wovon die »reine Einheit« der US-Hegemonie abstrahiert: all das, was Jürgen Elsässer, Matthias Küntzel und er selbst - mit beachtlichem politischen Gespür oder sachkundigen historischen Studien - von der »fortschreitenden deutschen Hegemonie über Ost- und Südosteuropa« zutage gefördert haben. Dabei wird unabweisbar: Es müsste doch ein Begriff von Universalisierung möglich sein, der nicht zwanghaft von dieser neueren deutschen Politik absieht; der noch den Prozess der Zersetzung von »Soveränität«, aus dem die Flüchtlingsströme resultieren, in der Form der Einheit eines Gegensatzes von universeller und gesonderter Form fassen kann; der die sich verändernde Position Deutschlands in den Krisenregionen und durch die Krisen reflektiert - ohne darum selber die Einheit des falschen Ganzen, die Totalität der Verwertung des Werts, aufzugeben, die ja tatsächlich universell herrscht.

Darauf verweist Thörners Bemerkung, dass die Regierung Milosevic, die aus mafiösen Interessen nicht bereit war, in Jugoslawien die Rolle des Verwalters von IWF-Diktaten zu spielen, zum Schurken erklärt werden musste: nach erfolgreich geführtem Krieg sind eben diese Barrieren für die Verwertung des Werts gefallen. Tatsächlich bedeutete die von deutscher Politik angezettelte und mittels Nato-Krieg betriebene Desintegration von Jugoslawien aus der Perspektive des IWF Integration auf einer neuen, bisher verhinderten Stufe. Die Gesellschaft des Landes hat sich direkter als jemals seinen Direktiven zu unterwerfen.

»Deutsch sein« heißt bekanntlich, eine Sache um ihrer selbst willen treiben. In diesem Sinn wäre die Dürftigkeit der direkten materiellen Interessen im Falle Jugoslawiens durchaus zu beachten. So ist der unmittelbare Gewinn, der aus der neueren deutschen Außenpolitik für die deutschen Unternehmen und das deutsche Bruttosozialprodukt herausspringt, nicht allzu hoch zu veranschlagen.

Anders für die deutsche Ideologie: sie gewinnt überall dort Umrisse, wo Krisen sind. Gegenüber den USA, denen alle Lasten des »Turbo-Kapitalismus« und seiner Weltordnung angerechnet werden, profiliert sich Deutschland mehr und mehr als ideeller Gesamt-Antikapitalist (darum sind die Grünen in dieser Regierung auch so wichtig) und erhält auf diese Weise Sympathien und hegemonialen Zuwachs.

Mit einem »Komplott« hat das allerdings am wenigsten zu tun. Die Sache, die von den Deutschen, noch immer mit geringem Rüstungsaufwand, vorangetrieben wird, ist selbst nichts anderes, als das falsche Ganze gewaltsam zur Geltung zu bringen.