Nachruf auf Hans Mayer

Als Außenseiter etabliert

In seiner Literaturgeschichte stand das Exzentrische im Zentrum. Der marxistische Gesellschaftskritiker Hans Mayer aber blieb in allen deutschen Staaten ein Marginalisierter.

Dass der Tod eines Literaturwissenschaftlers in der Tagesschau gemeldet wird, ist nicht die Regel. Bei dem am 19. Mai im Alter von 94 Jahren in Tübingen verstorbenen Hans Mayer machte man eine Ausnahme. Um dann in den Feuilletons mit Mayer, dessen Tod das »Ende einer Epoche« markiere (F. J. Raddatz in der Zeit), Marx zum x-ten Male für tot zu erklären und gleich noch einiges mehr zu beerdigen: Bildung, Geist, Utopie. Oder um Mayer Übles nachzurufen, wie der Finkelstein-Fan Lorenz Jäger dies, in bewährter Resistenz gegen Fakten, in der FAZ exekutierte.

Für das neue Deutschland war Mayer - jüdisch, homosexuell und links - ein ärgerliches Fossil. Doch in welcher der deutschen Gesellschaftsordnungen, die er erlebte, war er kein Ärgernis, Außenseiter oder gar - zu beseitigender - Fremdkörper, mit welcher stand er nicht im Konflikt? »Ich bin ein deutscher Universitätsprofessor und ein deutscher Schriftsteller. Deutscher bin ich nicht mehr und kann es auch nie wieder sein«, erklärte Mayer im Oktober 1993. »Ein Deutscher auf Widerruf« waren die zweibändigen Erinnerungen (1982 und 1984) betitelt.

Hans Mayer wurde 1907 in Köln in ein begütertes jüdisches Elternhaus hineingeboren; der Vater sympathisierte mit den Sozialdemokraten. Mayer studierte in Köln Jura, promovierte im Sommer 1930 mit der ideologiekritischen juristischen Studie »Die Krisis der deutschen Staatslehre und die Staatsauffassung Rudolf Smends«, durchlief den Ausbildungsgang eines preußischen Beamten und wurde 1933 wenige Tage nach der letzten Prüfung aus der deutschen Beamtenschaft entfernt.

Während seiner juristischen Ausbildung hatte er sich in Köln als Linksradikaler in Opposition zur SPD bei der Zeitschrift Roter Kämpfer und in der SAP engagiert. Entsprechend ratsam war es, sich frühzeitig aus dem Nazi-Reich abzusetzen. In Genf, Paris und später wieder in der Schweiz schlug Mayer sich u.a. mit einem Stipendium des geflohenen Frankfurter Instituts für Sozialforschung durch. Mayer war an der Studie über »Autorität und Familie« beteiligt, später schrieb er »Georg Büchner und seine Zeit«.

Nach einem Intermezzo in Westdeutschland, u.a. beim Hessischen Rundfunk, ging Mayer 1948 nach Leipzig. Die Büchner-Studie des Juristen wurde als literaturwissenschaftliche Habilitationsschrift anerkannt, und Mayer erhielt 1948 einen Lehrstuhl für Literaturgeschichte. In Leipzig fand er eine Nische; die offizielle Literaturpolitik vertrat er nie, entgegen dem Geschwätz Lorenz Jägers in der FAZ. 30 Semester lehrte der parteilose Marxist in Leipzig, bevor man ihn 1963 rausekelte.

Die westdeutsche Germanistenzunft schob Mayer dann auf den neu eingerichteten Lehrstuhl für Literatur an der TU Hannover ab. Bis zu seinem Tode lebte er in Tübingen, wo er, nachgerade manisch, weiter arbeitete. Noch in hohem Alter, als er kaum noch sehen konnte und ihm das Ablesen von Texten unmöglich wurde, hielt Mayer, gegen den jüngere Kollegen wie Schlaftabletten wirkten, fesselnde Vorträge. Noch wenige Tage vor seinem Tod wurde sein letztes Buch ausgeliefert: »Erinnerungen an Willy Brandt«.

In seiner Disziplin, der Literaturwissenschaft, war Mayer ein etablierter Außenseiter. Er war hochangesehen und randständig. Man kam um ihn nicht herum, folgte ihm aber auch kaum auf seinen Wegen. Den Geisteswissenschaftlern missfiel sein sich historisch-materialistisch verstehender Wissenschaftsansatz, und die seit den sechziger bzw. siebziger Jahren sich partiell durchsetzende materialistische Literaturwissenschaft orientierte sich dann häufig und oft mit guten Gründen eher an Gramsci und Althusser und nicht - wie Mayer - an Hegel und Lukács.

Bei einem so umfänglichen Oeuvre, wie Mayer es vorgelegt hat, einen Band als »Hauptwerk« zu privilegieren, nämlich das Buch »Außenseiter« (1975), gibt einer subjektiven Einschätzung den Anschein von Objektivität. Bei vielen Vertretern der »Hauptwerk«-These spielt wohl eine Rolle, dass sie »Außenseiter« als »heimliche« Autobiografie lesen, was Mayer ausdrücklich zurückwies.

Die Gesellschaftsdiagnose und der Anspruch an Aufklärung, den »Außenseiter« formuliert, macht das Buch zu einem Politikum. Der Autor geht, so lautet gleich der erste Satz, »von der Behauptung aus, dass die bürgerliche Aufklärung gescheitert ist«. Ironisch fügt er an, dem werde »kaum widersprochen werden«, um dann das Exzentrische ins Zentrum zu rücken, Zentrum und Mehrheit am Umgang mit der Peripherie und den Minderheiten zu messen. In der gebotenen Radikalität behauptet Mayer, ausgehend von einer Reflexion Michel de Montaignes, Aufklärung müsse sich am Umgang mit denen bewähren, »die als Monstren geboren wurden«. Literaturgeschichte als Gesellschaftsgeschichte schreibend, verfolgte Mayer das Scheitern der Aufklärung anhand ihres Umgangs mit drei Gruppen: Frauen (»Judith und Dalila«), Homosexuellen (»Sodom«) und Juden (»Shylock«).

Mayer, der 1968 erstmals nach Israel gereist war, dehnte seine Reflexionen zum Antisemitismus auf dessen Wandlungen nach der Gründung des Staates Israel aus. »Wer den 'Zionismus' angreift, aber beileibe nichts gegen die 'Juden' sagen möchte, macht sich oder anderen etwas vor. Der Staat Israel ist ein Judenstaat. Wer ihn zerstören möchte, erklärtermaßen oder durch eine Politik, die nichts anderes bewirken kann als solche Vernichtung, betreibt den Judenhass von einst und jeher.« Wenn Shylock »als Staat Israel traktiert« werde, dann zeige sich, dass »an die Stelle der einstigen Individualaußenseiter nunmehr ein Außenseiterstaat getreten ist, der es zu spüren bekommt. Das Zwar-Aber, das ihn umgibt, kann virtuell den neuen Völkermord bedeuten.«

Nach dem Anschluss der DDR griff Mayer mit einer Trilogie in die neudeutsche Debatte ein. 1991 veröffentlichte er »Der Turm von Babel. Erinnerung an eine Deutsche Demokratische Republik«, es folgten 1993 »Wendezeiten. Über Deutsche und Deutschland« und 1994 »Der Widerruf. Über Deutsche und Juden«.

Viel Kritik und auch Wut zog Mayer mit »Der Turm von Babel« auf sich. Die offizielle Linie, die DDR total zu delegitimieren und damit zugleich jegliches Denken und Handeln, das über den Status quo hinauszielt, für nichtig zu erklären, war Mayers Sache nicht. Er sprengte die verordnete intellektuelle Eindimensionalität und erregte Anstoß, als er formulierte: »Das Ende der DDR bedeutet nicht das Ende eines Denkens über gesellschaftliche Alternativen. (...) Die Deutsche Demokratische Republik war stets eine deutsche Wunde. Sie wird es bleiben und nicht heilen, solange man nicht erkennt, dass hier eine deutsche Möglichkeit zugrunde ging.«

Mayer spürte wohl frühzeitig, dass das neue Deutschland den Mythos von der »deutsch-jüdischen Symbiose« wieder aufleben lassen würde, den Gershom Scholem destruiert hatte. Diese selbstgefällige Aussöhnung des neuen Deutschlands mit »seinen Juden«, denen man gegebenenfalls sogar Auschwitz nachsehen würde, fand im November 1995 einen Höhepunkt in Martin Walsers Laudatio bei der postumen Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises an Victor Klemperer. Diese Rede nahm vieles von der Friedenspreis-Rede Walsers vom Oktober 1998 vorweg. In Walsers »Wunschdenken« entstand ein alternatives Bild deutscher Geschichte, nebst der Möglichkeit einer deutsch-jüdischen Idylle.

Dagegen hatte Mayer 1993 darauf beharrt: »Ein geschichtliches Datum wie dieser 30. Januar 1933 kann nicht aus seinem Zeitvergang losgelöst werden. Jener Tag hat den Widerruf dessen bedeutet, was man als deutsch-jüdische Symbiose zu bezeichnen pflegt.« Während Walser sich wehrte, »bei allem, was vorher war, nur noch daran zu denken, dass nachher Auschwitz stattfand«, insistierte Mayer: »Alles Nachdenken über den Widerruf des Zusammenlebens und gemeinsamen Wirkens der Deutschen mit den deutschen Juden muss also vom Tag des Endes zurückschauen auf die Anfänge. Wer den Widerruf vom Winter 1933 als Vorgang einer gleichsam universalen Gegenaufklärung versteht (verstehen will), muss den historischen Prozess deutscher Aufklärung nachvollziehen«, womit Mayer auf den Grundgedanken seines voluminösen Essays »Das unglückliche Bewusstsein. Zur deutschen Literaturgeschichte von Lessing bis Heine« (1986) zurückverwies.

Was Mayer im hohen Alter antrieb, weiter Texte - die er zuletzt diktieren musste - zu verfassen, wird am Ende seiner »Deutschen Trilogie« deutlich: Es gebe »ein virulentes neues Phänomen in diesem wahrlich 'neuen Deutschland'. Es gibt eine zahlenmäßig ernst zu nehmende 'Sehnsucht nach dem Dritten Reich'.« Mayer, der in ungebrochener Ausdruckskraft die »neuen Hakenkreuzler« auch als solche bezeichnet hat, den Wahn und Hass und das (hoffentlich: bisherige) Scheitern der Aufklärung benannt und analysiert hat - er wird fehlen. Der Untertitel, den die Zeit Raddatz' Nachruf verpasste, verriet dies: »Die Zukunft gehört den kleineren Geistern.«