»Eine dritte Front wird eröffnet«

Ein Gespräch mit Baddradine Djahnine, dem Generalsekretär der Lehrergewerkschaft Sete in der kabylischen Region Bejaïa. Er gehört der Aktionsplattform an, welche die Proteste in der Kabylei koordiniert

Wie haben Sie die letzten 24 Stunden verbracht?

Mit Demonstrationen und bei Sit-ins vor öffentlichen Gebäuden, bis zwei Uhr in der Frühe. Jeden Abend werden wir jetzt Zeuge desselben Spektakels. Nach Sonnenuntergang löschen die Einwohner überall die Lichter. Sodann begeben sich viele Leute mit brennenden Kerzen vor die Präfektur, das Rathaus, das Justizgebäude ... Ein Großteil der Einwohner benutzt weiterhin den alten französischen Namen der Stadt, Bougie, der genauso klingt wie die Kerze im Französischen. Es geht also nicht um ein pazifistisches Spektakel, sondern darum, auszudrücken, dass diese Stadt brennt.

Können Sie uns Ihre Funktionen im gesellschaftlichen Leben beschreiben?

Ich arbeite als Lehrer und bin Generalsekretär der Gewerkschaft der Arbeiter im Bildungswesen (Sete), in der Wilaya. In dieser Eigenschaft bin ich Mitglied im Aktionskomitee der Wilaya, und habe im algerischen und im französischen Fernsehen für die örtliche Aktionsplattform gesprochen. Ferner bin ich Mitglied des PST, der Sozialistischen Arbeiterpartei. Es handelt sich um eine marxistische Partei, die 1974 aus der KP entstanden ist - sie unterstützte im Kern das antiimperialistische FLN-Regime, während wir es als Staatskapitalismus, vor allem der Militärs, denunzierten. Diese Organisation ist nicht zu verwechseln mit dem PT, der Partei der Arbeiter, die ein strategisches Zweckbündnis mit den Islamisten eingegangen ist.

Durch die Jahre des Bürgerkriegs wurden wir jedoch sehr schwer gebeutelt, da wir sowohl die herrschenden Militärs als auch den islamischen Fundamentalismus scharf bekämpften.

Sie sprachen bereits von den Aktionskomitees und Koordinationen, die auf regionaler Ebene in der Kabylei die aufständische Bewegung organisieren. Die Tageszeitung Le Quoditien d'Oran titelte am fünften Mai: »Die Kabylei kehrt zur stammesmäßigen Organisation zurück.« Handelt es sich um ein rückwärts gewandtes Phänomen?

Also, warum der Quotidien d'Oran so etwas schreibt, liegt auf der Hand. Im Hinblick auf den kabylischen Aufstand steht diese Zeitung voll hinter Präsident Abdelaziz Bouteflika. Was nun die Sache selbst betrifft, muss man zwischen den beiden Regionen der Kabylei differenzieren, der Wilaya um Bougie und der von Tizi-Ouzou. In der Wilaya gibt es moderne politische Strukturen. Die örtlichen Gewerkschaften haben ihren Platz und stehen in der Stadt Bougie neben den Stadtteil-Koordinationen an der Spitze der Bewegung. In den Dörfern und kleineren Ortschaften handelt es sich um demokratisch gewählte Dorfkoordinationen, in denen auch junge Leute von 25 Jahren sitzen und die Diskussionsprozesse der Basis repräsentieren - eine Art Dorfsowjet.

Anders sieht es im Bezirk um Tizi-Ouzou aus. Dort repräsentieren die Koordinationen tatsächlich die traditionellen großfamiliären und clanartigen Strukturen. Und dort sind sie eher ernannt als gewählt. Es dominieren Männer um die 50. Dieser Unterschied erklärt sich aus der lang anhaltenden Präsenz der Linken und radikalen Linken im Bezirk Bougie, die seit dem ersten »berberischen Frühling« im April 1980 ihre Spuren hinterlassen hat.

Am 1. Juni kommt es zu einem Treffen zwischen den beiden Koordinationskreise. Wir werden ausloten, was wir gemeinsam tun können und was nicht. Wir werden uns aber bestimmt nicht in eine kommunitaristische Vision integrieren lassen.

Was halten die kabylischen Parteien von der Selbstorganisation?

Die beiden Großparteien der Region, der RCD und der FFS, haben versucht, eine konkurrierende Koordination für die Wilaya von Bougie auf die Beine zu stellen, die ihrerseits auf den traditionellen Clanstrukturen beruhen soll. In unserem Bezirk blieb diese Pseudo-Koordination bisher jedoch marginal. Sowohl die beiden Parteien, als auch die Staatsmacht versuchen, die Selbstorganisation zu blockieren und die Bewegung in das Fahrwasser einer regionalistisch-folkloristischen Bewegung zu bringen, was aber bisher nicht funktioniert.

Warum sind Sie so sicher, dass der Protest nicht doch auf eine Bewegung mit regionalistisch-partikularistischem Charakters hinausläuft?

Wie Sie wissen, war die Repression der Gendarmerietruppen um den 20. April, den Jahrestag des »berberischen Frühlings«, ein Auslöser der Unruhen. Doch schauen Sie sich an, was zum Jahrestag des »berberischen Frühlings« hier los war. Die beiden Nachfolgeorganisationen des MCB, der Berberischen Kulturbewegung von 1980, die dem RCD bzw. dem FFS nahe stehen, organisierten hier Gedenkdemos zum 20. April. Aus der gesamten Wilaya kamen einmal 400, und einmal 500 Personen zusammen.

Im Übrigen hatte der Staat von Anfang an begriffen, dass es sich um eine soziale Bewegung handelt. In den ersten drei Tagen berichtete das staatliche Fernsehen über die Forderungen im Hinblick auf Wohnungsnot, soziales Elend und Unterdrückung durch die Staatsorgane. Kurz darauf änderten die staatlichen Medien ihren Kurs und berichteten über die Bewegung als eine, die kulturelle Forderungen der Berberbevölkerung zum Gegenstand habe. Das geschah, um die Massen in den arabischsprachigen Landesteilen gegen die Protestbewegung aufzubringen.

Besteht nicht die Gefahr, dass der Aufruhr allein auf die Kabylei beschränkt und vom Rest des Landes isoliert bleibt?

Die arabischsprachigen Teile sind weit stärker geprägt vom Terror der letzten Jahre, von der Erfahrung des Umkippens der islamistischen Massenbewegung in den Terrorismus. Diese Erfahrungen haben die Spontaneität abgetötet, für ein Misstrauen gegenüber kollektiven Utopien gesorgt. In der Kabylei haben wir andere Voraussetzungen, da der bewaffnete Islamismus zumindest in der Region um Bougie niemals Fuß fassen konnte.

Trotzdem glauben wir, dass der Funke auch auf die arabischsprachigen Landesteile überspringen könnte, wo die grundlegenden sozialen Probleme dieselben sind - wenn es nur einen organisierten Kern gäbe.

Bisher hat das nicht funktioniert.

Nein, nicht so richtig. Es hat Demonstrationen gegeben, bei denen sich in der Regel um die 5 000 Teilnehmer versammelten - die Zahlen werden manchmal auch von der unabhängigen Presse aufgebauscht, die derzeit einen schweren Konflikt mit der Regierung wegen des neuen Zensurgesetzes auszufechten hat. Der RCD und der FFS schaffen es bisher in der Hauptstadt Algier - deren Einwohner zu 50 Prozent aus der nahegelegenen Kabylei stammen - noch, als Träger der Protestbewegung zu erscheinen. Die Voraussetzungen dort sind andere, denn hier in der Kabylei haben wir beispielsweise den FFS als lokale Regierungspartei in zahllosen Rathäusern erlebt; RCD und FFS haben sich konkret vor Ort diskreditiert.

Wir versuchen aber derzeit, die Bewegung auf ein nationales Niveau emporzubringen. Für den 25. Juni rufen wir zu einer landesweiten Großdemo in Algier auf. Falls sich die Mobilisierung als nicht breit genug herausstellt, dann werden wir die Demo auf den 5. Juli verschieben, das wäre ein symbolisches Datum - der Jahrestag der Unabhängigkeit von Frankreich 1962.

Die Lage bisher ist also nicht von einer Konfrontation zwischen den Bevölkerungsgruppen, entlang der Linie »Araber gegen Berber«, geprägt. Das kann sich aber irgendwann ändern. Radikalisierte Dissidenten der Regionalparteien FFS und RCD versuchen heute, die Parole der »Unabhängigkeit der Kabylei« ins Spiel zu bringen, bleiben aber bisher randständig. Zugleich sind viele Jugendliche hier so radikalisiert, dass sie lieber heute als morgen den Guerillakampf gegen das Regime aufnehmen würden - ohne politische Führung und ohne klare Perspektive, daher erscheint uns das heute als großes Risiko.

Wie wird Algerien Ihrer Meinung nach in sechs Monaten aussehen?

Die pessimistische Variante zuerst: Die Bewegung weitet sich nicht aus und fällt schließlich in sich zusammen. Präsident Bouteflika verschärft seine Diktatur, die derzeit eine Art Bonapartismus - aber ohne Zustimmung der Massen - darstellt. Die optimistische Version lautet, dass die Bewegung sich strukturiert und das Regime zurückdrängt, ihm also Zugeständnisse abringen kann.

Heute ist es ansatzweise gelungen, im Lande eine dritte Front zu eröffnen, nachdem die Bevölkerung jahrelang zwischen den Militärs und dem radikalen Islamismus eingekeilt war. Die französische Presse und die dortigen Intellektuellen diskutieren in der Regel über einen Kompromiss, um zu einem Ende des Blutvergießens zu gelangen: Islamisten und Regierungskräfte müssten sich an einen Tisch setzen und irgendwie die Macht unter sich aufteilen.

Aber das ist ja schon längst so. Zwei islamistische Parteien sitzen in der Regierung. Auf dieser Ebene kann man sich allenfalls über die Dosierung der politischen Zutaten innerhalb des Regimes streiten, auf die Gefahr hin, die Bedeutung der Islamisten mehr und mehr zu erhöhen. Wir hingegen wollen weder die herrschenden Eliten und ihr kapitalistisches Projekt, noch das reaktionäre Projekt des Islamismus. Was Algerien braucht, ist eine Revolution, die aus einer neuen sozialen Dynamik hervorwächst.