Separatismus in Europa

Folklore aus der Gruft

In Belgien wollen sich viele Flamen von den Wallonen separieren, in Spanien wollen die Basken einen eigenen Staat errichten, in Serbien die Kosovo-Albaner, in Norditalien die Bossi-Leute, rund um Barcelona die Katalanen und - wenn man das Blickfeld erweitert - in der Türkei die Kurden und in Tschetschenien die Tschetschenen.

Es gibt weitere Kandidaten. Als im vergangenen Sommer im österreichischen Nationalrat das Handbuch »Volksgruppen in Europa« vorgestellt wurde, resümierte die FAZ: »Minderheitenforschung ist ebenso spannend wie facettenreich«, und ihre Gegenstände vermehren sich proportional zum Interesse, das ihnen entgegengebracht wird: »307 Volksgruppen mit 103 Millionen Angehörigen zählen Fachleute in Europa. Als man vor dreißig Jahren den Bestand erfasste, kam man auf 90 Volksgruppen mit 38 Millionen Angehörigen. Wie erklärt sich diese wundersame Vermehrung?«

Eine Anwort auf diese Frage weiß der Berichterstatter auch nicht, steuert aber den wichtigen Hinweis bei, von den 217 nach der Auflösung der Sowjetunion neu oder wieder entdeckten europäischen Volksgruppen seien lediglich 140 in Osteuropa und auf dem Balkan zu Hause.

Der Ausgang der baskischen Regionalwahlen, der erfolgreiche und von der EU geduldete albanische Terrorismus im Kosovo und in Mazedonien sowie der von der französischen Nationalversammlung vergangene Woche in der ersten Lesung beschlossene Autonomie-Status für Korsika signalisieren, dass die Idee der Volksgruppe weiter boomt.

Die Ursachen und Formen des Booms sind durchaus verschieden. Siedeln Volksgruppen aber in Landstrichen, die sich im Interessens- und Zugriffsbereich der europäischen Vormacht Deutschland befinden, legen ihre Vorposten ein paar Leute um, nennen sich Widerstandskämpfer oder Rebellen, dann dürfen sie sicher sein, dass in Berlin alsbald ein »Konflikt« auf der Tagesordnung steht, der mit der Unterdückung von Minderheiten und mit der Verletzung von Menschenrechten zu tun hat. Siehe Kosovo, Tschetschenien und neuerdings Mazedonien.

Die Regierung Jospin hingegen hofft, eine Beschwichtigung des korsischen Separatismus werde diesen unschädlich machen, indem sie die Widersprüche zwischen den nationalistischen Fraktionen auf der Insel verschärft. Dass diese Form der Befriedung nicht unbedingt gelingt, erweist sich am Beispiel der baskischen Separatisten, die trotz einer höchst umfassenden Autonomie am Projekt eines eigenen Staates festhalten. Auch in Belgien zieht seit Jahren jedes Zugeständnis an die Flamen augenblicklich neue Forderungen nach sich.

In ihren Organisationsformen und in ihrer Ideologie stehen separatistische oder regionalistische Volksgruppenbewegungen für die Annullierung der bürgerlichen Republik. Emanzipatives ist nirgends anzutreffen. Patronage, Gangstertum und Totschlag formieren das Politische und die Organisation sozialer Interessen. Fast regelmäßig verbunden mit einer rückwärts gewandten Kritik an der EU oder der Globalisierung, wird anstelle von Gesellschaft Gemeinschaft propagiert, und heraus kommen völkische Identitätshuberei, Rassismus und Folklore.

Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber sagte im vergangenen Jahr, Europa brauche starke Regionen »zur Bewahrung von Identität und Geborgenheit in der zunehmend globalisierten Welt, für bürgernahen Verwaltungsvollzug und nicht zuletzt für die innere Stabilität der Gesellschaft«. Auch bei vielen Linken ist jene Art von halluzinierter Selbstbestimmung beliebt, die ihre Qualität allein aus dem Kleinräumigen, Vertrauten und Gewachsenen schöpft. Alldem ist das Modell der Republik unbedingt vorzuziehen. Es zu verteidigen ist zwar nicht revolutionär, aber notwendig.