Der Balkan und der Westen

Herder lesen und sterben

Die UCK will mit freundlicher Unterstützung aus Deutschland einen großalbanischen Staat gründen.

Warum ist Jugoslawien auseinander gefallen? Mark Terkessidis glaubt die Ursachen für den Untergang Jugoslawiens gefunden zu haben.

Auf SPD-Veranstaltungen, im Tagesspiegel, in der Zeit oder jüngst auch in der Jungle World konnte man sie mitbekommen. Dort präsentierte der Laurenz Meyer der antinationalen Linken den Grund für den Zerfall des ehemaligen Vielvölkerstaats so: »Der Zerfall Jugoslawiens wurde (letztlich) von lokalen Akteuren betrieben, deren Auffassung von der Nation sich zu einem bedeutenden Teil aus den Schriften Herders speiste«. Das ist interessant. Warum ist Jugoslawien auseinander gefallen? Weil »lokale Akteure« zu viel Herder gelesen haben.

Dabei denkt Terkessidis wohl weniger an »lokale Akteure« wie die Belgrader Organisation Otpor, ebenso wenig wie an den früheren kroatischen Präsidenten Franjo Tudjman, sondern an den von ihm immer gern und in seinem Beitrag in der Jungle World ausschließlich erwähnten ehemaligen jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic.

Der habe den deutschen Nationalsozialismus in ebensolcher Weise bewundert wie die Nazis ihren Fürsprecher für die Einheit von Volk und Nation. Jetzt weiß man wenigstens: Herder ist schuld, dass der Serbe wahlweise den Albaner oder den bosnischen Muslim unterdrückt und, wenn es sein muss, seine ungeborene Leibesfrucht auf dem Holzkohleöfchen grillt.

Schön, wie explizit deutsche Ideologie und Ideologen, die nichts anderes meinen als sich selbst, ihr »Volk« oder die gepflegten Volksbrüderschaften, immer wieder - nein, nicht zum Irak, nicht zu Afghanistan oder Deutschland - sondern zu Jugoslawien, insbesondere Serbien, passen. Wäre die Gleichsetzung von Hitler oder wenigstens Stalin mit Milosevic nicht schon längst in der bürgerlichen Presse üblich, dann hätte wohl Terkessidis sie erfunden.

Doch er hat tatsächlich noch etwas Neues entdeckt: die Nichtexistenz großalbanischer Pläne der UCK. Niemand verlange ein Großalbanien oder ein Großkosovo, die »bedeutsamen Kräfte im Kosovo« nicht, die mazedonische UCK nicht, niemand.

Lesen wir genau: Von einer Verschiebung der Grenzen sei nie die Rede gewesen. Wenn aber Deutsche, etwa in Gestalt der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, den Vorschlag machen, im Zusammenhang mit »territorialen Lösungen« sollten Kosovo-Albaner, mazedonischen Albaner und Albanien-Albaner »gesamtalbanische Aufgaben« übernehmen, hat auch niemand was dagegen. Erst recht nicht die UCK.

Grenzveränderungen treffen auch den Geschmack von Sali Berisha, dem ehemaligen albanischen Präsidenten, der auf einer Tagung der Konrad-Adenauer-Stiftung im April 2001 für ein »vergrößertes Albanien« plädierte. Und auch der jetzige Präsident des Landes, Rexhep Meidani, möchte keine klaren Aussagen gegen »greater Albania« machen und forderte deshalb beim Weltwirtschaftstreffen im Februar in Davos zunächst vorsichtshalber die internationale Anerkennung des Kosovo und Montenegros, wo es eine starke albanische Minderheit gibt.

Schließlich könnte der Vereidigungsschwur der UCK deutlicher nicht sein: »Ich schwöre, dass ich für die Befreiung der besetzten albanischen Erde und für deren Vereinigung kämpfen werde.« Die faschistische Lösung der UCK im Kosovo mit einer von Serben, Roma, Kroaten, Juden, Türken usw. befreiten Zone hat gut funktioniert, ebenso wie ihre Zusammenarbeit mit deutschen Gremien, die - wie in den Fällen Slowenien und Kroatien - ideologisch auf die im Entstehen begriffenen Volksstaaten einstimmen. Mittlerweile sind sich ja alle einig: Das Kosovo ist kein Teil der Republik Jugoslawien mehr.

Darüber wird kaum ein UCK-Kämpfer eine Träne vergießen. Im Kosovo ist man sehr wohl bei einer territorialen Änderung zugunsten der Albaner angekommen. Sie wurde von deutschen Staatsideologen vorbereitet, von vornehmlich deutschen Politikern politisch vertretbar gemacht und von der UCK erkämpft.

Eine entsprechende Lösung in Mazedonien ist nicht so abwegig. Der deutsche Bundestag macht Vorschläge in seinem Organ Das Parlament publik: »Aller Tage Abend ist aber weder im Kosovo noch in Mazedonien.« Fischers Statement über die »offene albanische Frage« ist somit nur konsequent. Die UCK setzt alles daran, entsprechende Verhältnisse mit Waffengewalt durchzusetzen, getreu der Losung von Arben Xhaferi, dem Vorsitzenden der mazedonischen Albaner-Partei DPA, man werde »bis zum letzten Mann« kämpfen. Dass das nicht nötig sein wird, haben einige Nato-Bomber vor zwei Jahren über Serbien und Montenegro gezeigt.

Trotzdem behauptet Terkessidis, mit der »offenen albanischen Frage« seines Außenministers sei nicht die nächste Stufe im deutschen Plan zur Aufsplitterung des Balkans gemeint. Sondern? Darauf gibt er keine Antwort.

Stattdessen hält er den Kritikern deutscher Verhältnisse auf dem Balkan ihren »mangelnden Kontakt mit der Realität« vor. Die Einführung der Deutschen Mark in Montenegro, im Kosovo, in Teilen Bosnien-Herzegowinas (als »konvertible« Mark) und als gern gesehenes Zahlungsmittel in Serbien zeigt eine andere Realität als jene, die Terkessidis wahrzunehmen scheint.

Was Fischer in seinem Buch »Risiko Deutschland - Krise und Zukunft der deutschen Politik« bereits 1995 zusammenträumte, ist Wirklichkeit geworden. »Bekommt Deutschland jetzt, nachdem es friedlich und zivil geworden ist (...) all das, was ihm Europa, ja die Welt in zwei großen Kriegen erfolgreich verwehrt hat, nämlich eine Art 'sanfter Hegemonie' über Europa, Ergebnis seiner Größe, seiner wirtschaftlichen Stärke und seiner Lage und nicht mehr seines militärischen Potenzials?«

Auch wenn die Hegemonie nicht so sanft herbeigeführt wurde, wie Fischer es wohl gern gehabt hätte, ist man doch in Deutschland zufrieden, für die wirtschaftliche Neuordnung auf dem Balkan zuständig zu sein - ohne dass es jemand gemerkt hätte.

Zumindest Terkessidis hat es nicht gemerkt. Doch nicht nur diese Übereinstimmung, auch die Deckungsgleichheit deutscher Ziele in der Balkanpolitik von 1943 und 1999 ist spurlos an ihm vorbeigegangen. Matthias Küntzel macht in seinem im vergangenen Jahr erschienenen Buch »Der Weg in den Krieg« darauf aufmerksam, dass die »ethnischen Präferenzen« von damals und heute nicht eben zufällig sind, sondern dass »ethnische Reinheit« bereits damals ein Kriterium für die gute Zusammenarbeit zwischen radikalen Albaner-Divisionen und der deutschen Besatzungsmacht war.

Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch die Position des Europäischen Zentrums für Minderheitenfragen (EZM), das sich durch Mittel des Auswärtigen Amtes und des Bundesinnenministeriums finanziert. Dort kritisierte man die USA während der Verhandlungen von Rambouillet, weil sie »die Option der Unabhängigkeit für das Kosovo a priori ausgeschlossen« hätten (vgl. Matthias Küntzel: Der Weg in den Krieg, S. 106).

Ein »ethnisch reines« Großalbanien ist zwar noch Vision, aber ein »ethnisch reines« Kosovo tut es erst mal auch. Dafür nimmt man auch die Flucht der nicht albanischen Bevölkerungsgruppen vor dem Terror der UCK in Kauf und verleiht ihr einen fast natürlichen Anschein.

Terkessidis behauptet hingegen, »vor Ort« hätte man treffendere Aussagen über die sich bietende Realität machen können. In Serbien insbesondere dann, wenn die »Widerstandsgruppe« Otpor Einladungen an liberale deutsche Intellektuelle verschickt - wie im Fall Terkessidis geschehen -, und dafür sorgt, die Armut als Zeugnis sozialistischer Bankrottpolitik statt westlicher Sanktionen oder der 78tägigen Bombardierung auszugeben.

Tatsächlich gibt es Anhänger und Mitglieder von Otpor, B92 und verwandter Organisationen, die nicht nur einer Relativierung des Holocausts wenig abgeneigt sind, wenn sie behaupten, es handelte sich dabei um »natürliche Selektion«. Das habe ich »vor Ort« anhören dürfen.

Die gleichen Menschen streben derzeit eine Neuregelung der Besitzansprüche an, wie sie durch die Privatisierung Anfang der neunziger Jahre in der ehemaligen DDR stattfand So der jugoslawische TV-Sender BK in seinen Nachrichten vom 1.Mai. Diese Neuregelung könnte unter anderem zur Folge haben, dass privates jüdisches Eigentum wie in den Jahren 1941 bis 42 an deutsche Unternehmer »übertragen« werden kann.

»Vor Ort« bekommt man also Dinge mit, von denen man zu Hause noch keine Ahnung hatte, weil nicht mal ein Edmund Stoiber es wagen würde, einen derartigen Revisionismus an den Tag zu legen. Geschieht der Revisionismus »vor Ort«, ist es anscheinend schon in Ordnung, ihn sich von den dortigen Interessengruppen präsentieren zu lassen und unüberlegt wiederzukäuen.