»The Short Century«

Politische Korrekturen

Die Ausstellung »The Short Century. Unabhängigkeits- und Befreiungsbewegungen in Afrika 1945 bis 1994« zeigt das Projekt der Dekolonisierung.

Afrika hat er einfach vergessen. In seinem Werk »Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts« vernachlässigte Eric Hobsbawm die historischen Prozesse in Afrika und ihre Akteure. Okwui Enwezor, der künstlerische Leiter der im nächsten Jahr stattfindenden documenta XI, stellt fest: »Das Buch bleibt bei einer Geschichte stehen, die von den Kräften der europäischen Geschichte geformt wird.«

Beleidigt ist der gebürtige Nigerianer deswegen nicht. Diese Lücke nahm er aber zum Anlass, eine Ausstellung zu konzipieren. Der Politik- und Literaturwissenschaftler übernimmt dafür Hobsbawms Begriff »The Short Century«, der beim britischen Historiker die Zeitspanne vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 bis zum Zusammenbruch des Sozialismus 1989/1990 umfasst, und wendet ihn für Afrika auf die Zeit zwischen 1945 und 1994 an.

Mit der von ihm kuratierten Ausstellung »The Short Century. Unabhängigkeits- und Befreiungsbewegungen in Afrika 1945 bis 1994« hat er sich nichts Geringeres vorgenommen, als eine »zeitgenössische, kritische Biografie Afrikas« vorzulegen. Schlaglichtartig beleuchtet die Ausstellung Malerei, Fotografie, Literatur, Stadtplanung und Architektur im Afrika des 20. Jahrhunderts. Auch politische Plakate, Reden der Pioniere der Befreiungsbewegung, Musik von Kwela bis Township Jive sowie zahlreiche Videoinstallationen sind zu sehen und zu hören.

Die Ausstellung beschäftigt sich mit der Zeit von 1945 bis 1994. Kwame Nkrumah (Goldküste), Jomo Kenyatta (Kenia) und Peter Abrahams (Südafrika) veranstalteten im Oktober 1945 den Fünften Pan-Afrikanischen Kongress in Manchester. Er endete mit der einstimmigen Forderung nach einem unabhängigen Afrika. Die zweite Jahreszahl markiert mit der Wahl Nelson Mandelas zum Präsidenten Südafrikas das Ende der Apartheid.

Die bereits in München gezeigte Ausstellung, die demnächst auch in Chicago und New York gastieren wird, ist bis Ende Juli im Martin-Gropius-Bau in Berlin zu sehen, also in jener Stadt, in der unter der Regie von Otto von Bismarck, als Vorsitzendem der Berliner Konferenz von 1884, das Wettrennen um die Kolonisation Afrikas in geordnete Bahnen gelenkt werden sollte. Portugal, Großbritannien, das Deutsche Reich, Frankreich und Belgien teilten sich den gesamten Kontinent. Nur Marokko, Äthiopien und Liberia wurden als unabhängige Einheiten anerkannt.

Wie gelang es Afrika, eine eigene Modernität zu verwirklichen? Welchen Einfluss hatte der Kampf gegen die Kolonisation auf Intellektuelle und Künstler in Afrika? Der interdisziplinär angelegten Ausstellung gelingt es aufzuzeigen, dass die afrikanische Moderne weder eine Ideologie mit universalem Anspruch ist, noch auf einer einfachen Übernahme der europäischen Moderne gründet.

Die Ausstellungsmacher liefern keine geschlossene Erzählung und geben keine abschließenden Antworten. Was haben die ehemaligen Kolonien aus der Unabhängigkeit gemacht, und wie ist ihre Entwicklung zu bewerten? Wie eigneten sich afrikanische Künstler die europäische Kultur an, und wo setzte eine Neuinterpretation ein? In seine Dia-Serie von südafrikanischen Archivfotos, für die schwarze Familien in steifen Posen und europäischer Kleidung abgelichtet wurden, blendet der Künstler den Schriftzug ein: »Ist das der Beweis für mentale Kolonisierung?«

Die Ausstellung gibt Hinweise, durchkreuzt das breite Feld der Dekolonisierung und verbindet subjektive Positionen mit historischen Dokumentationen. Auf eine chronologische Ordnung wurde zugunsten von Vielstimmigkeit und Ambivalenz verzichtet.

Bei der Betrachtung von Georges Adéagbos Werk »Afrikanischer Sozialismus« zeigt sich die Komplexität und scheinbare Unordnung, von der die gesamte Ausstellung geprägt ist, besonders deutlich. Ein kleiner Raum ist vollgestopft mit Erinnerungsstücken: Fotos von Rock'n'Roll-Partys und Textkopien zur afrikanischen Kunst sind an die Wand gepinnt. Neben einer Postkarte von Patrice Lumumba hängt das Plattencover zu »Da kommt Freude auf« von Gottlieb Wendehals. Eine Flasche »Jägermeister«, ein Atlas der deutschen Kolonien und Carl Einsteins Buch »Negerplastik« liegen auf dem Boden zwischen ausgelatschten Cowboystiefeln und dem Buch »Heia Safari!« von General Paul von Lettow-Vorbeck.

Ein solches Sammelsurium wäre für die Verfechter des Pan-Afrikanismus oder der Negritude sicher undenkbar gewesen. Sie beriefen sich in den sechziger und siebziger Jahren auf eine authentische afrikanische Kunst. Afrikanische Intellektuelle diskutierten, ob ein Gedicht afrikanisch sein kann, wenn sich der Autor, so wie das der Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka getan hat, der Sprache der Kolonisatoren bedient. Er kritisierte den Essenzialismus der Negritude: »Ein Tiger proklamiert nicht seine Tigritude.«

Allgegenwärtig sind die Vertreter dieser Richtung in den Räumen dennoch, schließlich waren sie Pioniere und treibende Kräfte in der Unabhängigkeitsbewegung: Léopold Sédar Senghor, Dichter und Senegals erster Präsident, der Schriftsteller Aimé Césaire oder Kwame Nkrumah, Ghanas erster Premierminister.

Enwezor präsentiert Poeten, Politiker und Revolutionäre wie Kenneth Kaunda, Chinua Achebe, Fela Kuti. Allerdings muss die hier vorgestellte Moderne ohne Frauen als historische und künstlerische Subjekte auskommen. Kein Buch der südafrikanischen Autorin Miriam Tlali taucht hier auf, kein Zitat der Feministin Nawal El Saadawis steht neben den vielen Kurztexten von Frantz Fanon, Julius Nyerere oder Ahmad Sekou Toure, die sich wie rote Fäden durch die Ausstellung ziehen. Lediglich Isaac Julien und Mark Nash thematisieren in ihrem Film über Fanons »Black Skin, White Mask« den ambivalenten Befreiungsprozess algerischer Frauen.

»Wie tragen wir der Erfahrung des Anderen Rechnung?« fragt sich Enwezor. Zumindest bezogen auf das Thema Kolonialisation ist es ihm mit der Ausstellung gelungen, das zweigeteilte Denken vom absoluten Selbst und dem Objekt, dem abgeleiteten Anderen, zu verlassen. Afrikanische Kunst - die expressive Ölmalerei des Südafrikaners Ernest Mancoba, die Kupferstiche von Twins Seven-Seven aus Nigeria, Seydou Keitas Porträtfotografie aus Mali zu Beginn der Entkolonisation oder Kunstwerke aus afrikanischen Stoffen - ist hier vom Etikett der Township-Kunst und Souvenirschnitzerei befreit.

Die Ausstellung hat in den Ruinen des Kolonialismus gewühlt und dabei das Material für ein neues und neu sortiertes Archiv zusammengetragen. Es ist voll von Indizien und Eindrücken, die helfen, sich ein Bild davon zu machen, welchen Einfluss die Kolonialisation und der Widerstand dagegen auf die Produktion neuer Modelle kultureller Expression hatten. »The Short Century« repräsentiert ein Afrika der Imagination.

Gleichzeitig nähert sich die Ausstellung aber auch einem Afrika im Kontext seiner alltäglichen Praxen und Wirklichkeiten. Und sie verweist auf das unvollendete Projekt der kulturellen, sozioökonomischen und politischen Dekolonisierung Afrikas.

»The Short Century. Unabhängigkeits- und Befreiungsbewegungen in Afrika 1945 bis 1994«. Ausstellung im Martin-Gropius-Bau, Berlin, bis 29. Juli 2001

Okwui Enwezor: The Short Century. Independence and Liberation Movements in Africa 1945-1994. Prestel, München/London/New York 2001, 496 S., DM 128