Versöhnen und vernichten

Mit dem Aufstand in der Kabylei bildet sich eine neue politische Bewegung in Algerien, die mit Islamisten und Militärs nichts gemeint hat.

Die algerische Region Kabylei kommt nicht zur Ruhe. Täglich wird über neue Zusammenstöße zwischen militanten Jugendlichen und Sicherheitskräften berichtet. Am letzten Sonntag protestierten in Bejaïa, rund 250 Kilometer nordöstlich der Hauptstadt Algier, mehrere Zehntausend Demonstranten gegen die Regierung. Anschließend griffen Jugendliche öffentliche Gebäude an, die Gendarmerie reagierte mit Tränengas und Schüssen. Am Montag vergangener Woche demonstrierten nach Berichten von Augenzeugen mindestens 100 000 Personen in der 150 000 Einwohner zählenden Bezirkshauptstadt Tizi-Ouzou. Allein am Wochenende wurden sechs Jugendliche von der Polizei erschossen, seit dem Beginn der Unruhen im April starben 51 Menschen, 1 300 wurden verletzt.

Zwei qualitativ neue Elemente prägen die aktuelle Situation des Landes. Erstens lässt sich die bisher vorherrschende Darstellung der Ereignisse in Algerien, die nur auf der einen Seite die Militärs und auf der anderen Seite den bedrohlichen Islamismus wahrnehmen will, angesichts der jüngsten Ereignisse nicht aufrecht erhalten. Die Opposition gegen die Regierung, die sich auf den Straßen der Kabylei gebildet hat, hat nichts Islamistisches an sich.

Zum Zweiten hat aber auch jene Politik, die die Krise internationalisieren und vor allem die Europäische Union einbeziehen will, Fortschritte erzielt. Die französische Sozialdemokratie hat sich nunmehr nicht nur die Forderungen der kabylischen Regionalpartei FFS zu eigen gemacht, welche wegen der Massaker islamischer Terrorgruppen seit langem die Einschaltung der »internationalen Gemeinschaft« und der EU sowie die Bildung einer »internationalen Untersuchungskommission« verlangt.

Die französische Sozialistische Partei (PS) hat auch eine entsprechende Resolution des Kongresses der europäischen Sozialdemokraten, der am 7. und 8. Mai in Berlin stattfand, erwirkt. Ferner nahm das Europaparlament Mitte Mai eine Resolution an, die jedoch selbst den kabylischen Regionalparteien zu weit geht. Der FFS und andere kritisierten den sehr »ethnischen« Tonfall der Resolution, die vom »berberischen Volk« spricht. Nach Ansicht des FFS gibt es keine berberische Nation, sondern »ein algerisches Volk mit zwei Komponenten, einer arabischen und einer berberischen«.

Bisher gab es in Europa, vor allem in Frankreich, zwei Erklärungsansätze zur Entwicklung des nordafrikanischen Landes, die weitgehend in sich geschlossen waren. Während ab 1993 der Konflikt in Algerien in seine blutigste Phase eintrat, setzte die damals regierende konservative Rechte auf eine Politik der Härte, die nötig sei, um Frankreich vor dem Konflikt zu schützen. Dieser Diskurs, der sich auf das kollektive Gedächtnis Frankreichs aus dem Algerienkrieg (1954 bis 1962) bezog, basierte im Kern auf einer Pauschalverdächtigung der algerischen bzw. muslimischen Bevölkerung.

Deren Angehörige seien demnach zivilisationsgefährdende Barbaren, die jederzeit drohten, ihrer Neigung zur Gewalt nachzugeben. Daraus resultierten strengere Personenkontrollen gegenüber Immigranten, Polizeischikanen, Einreiseverweigerungen. Während der Amtszeit des nationalpopulistischen Innenministers Charles Pasqua (1993 bis 1995) kam es zu willkürlichen Verhaftungen und Terrorismusbeschuldigungen, ja sogar zu kollektiven Verbannungen angeblicher Islamisten aus Frankreich in das afrikanische Burkina-Faso.

Als Reaktion auf diese Maßnahmen entwickelte sich ein entgegengesetzter Diskurs. Dessen Protagonisten gaben die maßgebliche Schuld an der Eskalation den Militärs, betonten die von ihnen ausgehende Gewalt und Repression. Daran war so viel richtig, dass die politischen Bedingungen der Militärherrschaft erst die Voraussetzungen für den Aufstieg des Islamismus geschaffen hatten.

Mit den Kollektivmassakern islamistischer bewaffneter Gruppen an der Zivilbevölkerung, die eine Folge ihres schwindenden Einflusses auf die Gesellschaft waren und die im Sommer 1997 ihren grausamen Höhepunkt erreichten, gerieten alle, die diese These vertreten hatten, unter erheblichen Rechtfertigungsdruck. Dennoch fragten sie: »Qui tue qui?« (»Wer tötet wen?«) Es sei gar nicht erwiesen, so ihre Argumentation, dass es wirklich Islamisten seien, die die Massaker verübten - und nicht verkleidete Militärs oder von ihnen manipulierte Gruppen.

Die politischen Allianzen entlang dieser beiden Diskurse bilden sich in Frankreich und Europa teilweise quer zur Links-Rechts-Einteilung des Parteienspektrums. Den anti-islamistischen Diskurs prägt die bürgerliche Rechte, oftmals mit rassistischen Untertönen. Aber auch die französische KP setzt, aus anderen Motiven, auf eine vor allem antiislamistische Frontstellung. Dabei lehnt sie sich in erster Linie an politische Kräfte in Algerien wie den kabylischen RCD (Sammlung für Kultur und Demokratie) und die staatstreuen Post-Kommunisten an.

Der RCD - obwohl er in Frankreich vom Umfeld der KP zu Unrecht als eine progressive Kraft dargestellt wird - ist nichts anderes als eine Partei der modernisierten und frankophonen algerischen Eliten. Die vom RCD vertretenen Schichten orientieren sich in erster Linie an der Durchsetzung eines bürgerlich-liberalen Projekts und an der Einführung eines »modernen« Kapitalismus.

Umgekehrt stützen vor allem die französische Sozialdemokratie und die Grünen den anderen Diskurs. Dabei stützen sich ihre Positionen auf eine ausformulierte politische Strategie, jene des kabylischen FFS. Als Mitglied der Sozialistischen Internationale ist der FFS eng an die europäische und vor allem französische Sozialdemokratie angebunden. Zugleich zählt auch eine Reihe linker bzw. linksliberaler Intellektueller, die über die konservative »Strategie der Härte« empört sind, zu den »Versöhnlern« (réconciliateurs). So werden, in Abgrenzung zum anderen großen Pol - dem der so genannten éradicateurs (»Auslöscher« der Islamisten) - die Protagonisten dieses Diskurses genannt. In Frankreich haben sie ihr intellektuelles Zentrum im Verlag La Découverte.

Die Strategie des FFS beruhte Anfang der neunziger Jahre auf der Idee, man müsse die Islamisten dazu zwingen, die Macht zu teilen, und ihnen Garantien für eine Sonderstellung der Kabylei abringen. Im Januar 1995 unterzeichneten der FFS, die Islamische Heilsfront (Fis), aber auch die ehemalige nationalistisch-antikoloniale Einheitspartei FLN und die kleine Partei der Arbeiter (PT), in der Kirchengemeinde San'Egidio in Rom den so genannten Römischen Vertrag. Diese gemeinsame Plattform enthielt eine Reihe von Floskeln bezüglich einer »friedlichen Lösung der Krise«, des »notwendigen Respekts demokratischer Prinzipien« - aber auch klare Bekenntnisse zum Vorrang des göttlichen vor dem säkularen Recht. Dieser Kompromiss wurde oftmals und zu Recht als wichtiger Erfolg für den politischen Islamismus bewertet.

Zugleich setzte sich der FFS beharrlich für eine Internationalisierung der algerischen Krise ein. Ziel war es, die EU und / oder die USA dazu zu bewegen, Druck auf das algerische Regime auszuüben. Es sollte dazu gebracht werden, eine Einbindung des FFS und der anderen Unterzeichner des Vertrags von Rom in eine politische Globallösung zu akzeptieren.

Dass diese Strategie bei der europäischen Sozialdemokratie Applaus erntet, liegt vor allem daran, dass sie sich hervorragend in eine imperialistische Strategie zur Einflussnahme und politischen Neugestaltung des südlichen Mittelmeerraums einfügt. Im Oktober wird Algerien, als letztes der Maghreb-Länder, ein Assoziierungsabkommen mit der EU unterzeichnen, um mittelfristig eine Freihandelszone zwischen der EU und dem Maghreb zu bilden. Die in der Folge absehbaren sozial-ökonomischen Verwerfungen verlangen auch nach einer politischen Einflussnahme, um deren Konsequenzen zu beherrschen. Der derzeit dominierende intellektuelle Diskurs in Frankreich und Europa befördert dies, da er auf einen Kompromiss zwischen Militärs, Liberalen und Islamisten drängt. Von jedem Übel sollen die Algerier etwas haben.