Das ehemalige RAW Franz Stenzer

Da schwitzt der Citoyen

Gefährliche Orte CXXIX: Das frühere Reichsbahnausbesserungswerk Franz Stenzer. In dem Industriekomplex wird Samba getanzt, Theater gespielt, Politik gemacht. Jetzt kam die fristlose Kündigung.

Die Arbeiter der DDR-Reichsbahn sind schon lange nicht mehr im Einsatz, geschweißt, geschwitzt und gearbeitet wird hier aber noch immer. Auch mehr als zehn Jahre nach der Wende herrscht im früheren Reichsbahnausbesserungswerk RAW Franz Stenzer an der Warschauer Straße eifriger Betrieb.

Was aber in dem ca. acht Hektar großen Areal passiert, was sich in den alten Werkshallen aus wilhelminischer Zeit abspielt - mit der Bahn hat es nichts mehr zu tun. Mehr als 30 Gruppen haben sich in dem notdürftig instand gesetzten Komplex breit gemacht.

Sie nutzen die einstige Betriebsstätte von mehr als 1 000 Reichsbahnmitarbeitern jetzt für ihre Zwecke. In den ehemaligen Verwaltungsräumen hat sich das Atelier Kuschel eingerichtet, ebenso das Wolfgang-Neuss-Archiv, dazu eine Sambaschule, viele Künstlerprojekte und das RAW-Internet-Projekt.

Künstlergruppen, Initiativen und allerlei Projekte haben hier die Regie übernommen, haben den Verein RAW Tempel gegründet und mit dem Bezirksamt einen Zwischennutzungsvertrag geschlossen. Im Jahr 1999 wurde ihnen das Gelände für drei Jahre überlassen. Ausstellungen und Happenings werden seither in den bizarren Industriegebäuden veranstaltet, politische Statements werden abgegeben, zum Beispiel beim Aktionstag »Mach Dir ein Bild vom Frieden« zum Kosovo-Krieg. Dazu gehören auch Die Ratten vom Obdachlosentheater der Volksbühne, die hier ihr Stück »2000« probten, und der Verein Hängematten, der seine »1. Artmutskonferenz von unten« veranstaltete.

Die Eigentümerin des Geländes, die Vivico Management GmbH, ein Tochterunternehmen der Deutschen Bahn, hat diesen Vertrag jetzt fristlos gekündigt. »Grobe Vertragsverletzung«, lautet die Begründung des Unternehmens. Dabei waren im Zwischennutzungsvertrag die Aktionen des Vereins von der Eigentümerin gebilligt worden. Bauliche Veränderungen dürfen die Gruppen, die das Gelände nutzen, nur in geringfügigem Maße vornehmen. Sie wären jedoch dringend angebracht: Strom und fließendes Wasser sind rar, zur Toilette müssen die Nutzer einen Eimer Wasser zum Spülen mitbringen.

Mit eigenen Mitteln hat der Verein RAW Tempel sich allerdings um die Instandsetzung der denkmalgeschützten Häuser bemüht. So vermietet er Räume an weitere Projekte zu einem symbolischen Preis und erhält durch seine Nutzung die bauliche Substanz.

Aber die Vivico will offenbar zeigen, dass sie die Herrin der Hallen ist, in denen schon für 10 000 Mark pro Tag so mancher Film gedreht wurde. Sicherheitsleute patroullieren auf dem Gelände, ein Zufahrtstor wurde von den Privatsheriffs verschlossen, der Zugang zu dem Gelände damit erschwert. Am 24. und 25. April rückte die Polizei auf das Gelände vor, begleitet von Angestellten der Bewag und von Feuerwehrleuten. Ein Richter hatte diese Aktion zuvor mit »Gefahr im Verzug« begründet und genehmigt. Und die Beamten wurden tatsächlich fündig. Diverse Sicherheitsmängel sind schließlich kaum zu übersehen.

Die Immobiliengesellschaft der Deutschen Bahn hat große Pläne mit dem einstigen Reichsbahnausbesserungswerk. Ein stromlinienförmiges Projekt mit Penthousewohnungen und Shopping Center soll her, schließlich grenzt Friedrichshain an den Regierungsbezirk Mitte.

Das Gelände, ehemals Volksvermögen der DDR-Bürger, ist allerdings schwer zu vermarkten. Einerseits stehen die Gebäude unter Denkmalschutz, andererseits sind etliche der Hallen aus dem vergangenen Industriezeitalter schlicht abbruchreif. Die kaufmännische Verwaltung hat daher die in den nahe gelegenen Treptowers residierende Allianz-Versicherung übernommen, die nun nach vermögenden Investoren sucht.

Den Bezirkspolitikern gefällt das nicht. »Die Vivico hat die Pflicht, für die Stadt zu planen«, fordert Baustadtrat Franz Schulz von Bündnis 90/Die Grünen. Zusammen mit der parteilosen Bezirksbürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg, Bärbel Grygier, unterstützt Schulz den Verein RAW Tempel.

Auch die PDS-Fraktion des Bezirks verurteilt die Kündigung; interne Streitigkeiten der Bahn und Rangeleien sowohl mit dem Senat als auch mit dem Bezirk um das Gelände dürften nicht auf Kosten der im Kiez engagierten Bürger ausgetragen werden.

Die Kulturschaffenden sollen eben mehr sein als nur nützliche Idioten, die das unwirtliche Gelände instand setzen und kulturell aufwerten, damit es nach der Umwidmung in Bauland teuer verkauft werden kann. Allerdings dürfte eine solche Strategie dem Bundesfinanzministerium durchaus gefallen. Denn was spricht schon dagegen, das Grundstück im nunmehr zentralen Stadtbezirk meistbietend zu versteigern?

Verein und Bezirksamt aber haben andere Pläne und wandten sich mit einem Ideenaufruf an die Öffentlichkeit. Sie wollen die Bürger an der Nutzung des ehemaligen Reichsbahn-Ausbesserungswerkes mit seinen gigantischen Werkshallen beteiligen, das zu Zeiten der DDR bereits eine feste kulturelle Größe im Leben der Bewohner des Arbeiterbezirkes darstellte.

In der Kulturhalle des Komplexes trafen sich früher Arbeiter und Bewohner des Kiezes zu bunten Abenden, die Auftritte von Puhdies und Karat sind legendär geworden. Nun soll an der ehemaligen Bezirksgrenze eine reale Ost-West-Verbindung mit neuen gesellschaftlichen Utopien entstehen. »Sozial und von unten« soll das Areal genutzt und gestaltet werden.

Die Stadtplaner von unten lassen sich dabei vom Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin inspirieren, der anlässlich der Verleihung des Preises »Das politische Buch« an den Historiker Heinrich August Winkler eine »Kultur der sozialen Eigenverantwortung« proklamierte: »Das Leitbild des Bürgers im zivilen Staat ist nicht der Untertan, auch nicht der Empfänger staatlicher Leistungen, sondern der aktiv mit anderen seine Belange selbst regelnde Citoyen.«

So ließen sich vielleicht sogar Kunst und Kommerz, einfache Bürger, Stadtplaner und Politiker auf einen gemeinsamen Nenner bringen, wenn Konzernchefs ihre Stadtentwicklung de luxe aufgäben.

Gestaltungsvorschläge bietet das Modell der Landschaftsarchitektin Dagmar Everding, die in ihrer Dissertation die Erneuerungsprozesse auf Industriebrachen im Ruhrgebiet darstellte und nun für das Gelände an der Warschauer Brücke einen Ideenwettbewerb anregt. Auch und gerade in einem Problembezirk sollen Anwohner und Citoyens angesprochen werden, ihrer Phantasie freien Lauf zu lassen.