»Intimacy«

Sex in kalten Räumen

Mit Patrice Chéreaus Berlinale-Sieger »Intimacy« kommt jetzt ein neuer Typ des Sexfilms in die Kinos: der Porno, der schlechte Laune macht.

Es gibt in unserer angeblich tabulosen Zeit immer noch Zuschauer und Kritiker, die beim Anblick intensiver, nicht simulierter sexueller Darstellungen die Nerven verlieren. Die sich niemals über zu viel Langeweile, aber immer über zu viel Sex beklagen. Gegen die Vorwürfe solcher Tugendwächter ist Patrice Chéreaus Berlinale-Sieger »Intimacy« unbedingt zu verteidigen. Ein Vierteljahrhundert nach Bernardo Bertoluccis »Der letzte Tango in Paris« und Nagisa Oshimas »Im Reich der Sinne« ist es endlich wieder an der Zeit, dass anspruchsvolle Filme über Sexualität gedreht werden. In den konservativen achtziger Jahren war so etwas nicht möglich.

Der französische Theaterregisseur Chéreau schildert in seinem englischsprachigen Filmdebüt eine rein sexuelle Beziehung, deren Protagonisten so anonym bleiben wollen wie einst Marlon Brando und Maria Schneider in »Der letzte Tango in Paris«. Sie (Kerry Fox) besucht ihn (Mark Rylance) jeden Mittwochnachmittag. Sie verraten einander keine Namen, und sie gibt ihm nicht ihre Adresse. Ihre einzige Sprache ist der Sex. Da ist es nur legitim, dass Chéreau seinen Darstellern vollen Körpereinsatz abverlangt. Und das Spiel von Fox und Rylance ist in der Tat mutig.

Das kann man von dem Film insgesamt nicht sagen. Auch wenn Fox und Rylance wie wild herumvögeln, Spaß an der Sache haben sie nie. Sie wälzen sich auf dem Fußboden, weil sie unfähig sind, miteinander zu kommunizieren. »Intimacy« ist ein Film, der Sex zeigt, um ihn in seiner Trostlosigkeit zu entlarven. Da in der Wohnung des Mannes nicht geheizt wird, sind die Körper der beiden auch noch blau und seine Genitalien violett angelaufen. Ein neues Genre ist geboren: der künstlerisch anspruchsvolle Frust-Porno.

Über die sozialen Verhältnisse der Figuren erfahren wir kaum etwas. Schade, immerhin stammt das Drehbuch von Hanif Kureishi, dem das britische Kino zwei präzise Analysen der finsteren Thatcher-Ära (»Mein wunderbarer Waschsalon«, »Sammy und Rosie tun es«) zu verdanken hat. Irgendwann stellt sich heraus, dass der Mann Jay heißt und die Frau Claire. Dass er als Barkeeper arbeitet, sie dagegen Mann und Kind hat und ab und zu auf einer Kellerbühne auftritt. Der Film hat seine stärksten Momente, wenn Jay die Identität von Claire erforscht. Jay betätigt sich als Detektiv und dringt in die Welt ein, die Claire ihm vorenthalten wollte. Hier endlich kommt Bewegung in den Film. Leider nur vorübergehend.

Kureishi und Chéreau gelingt es nicht, die Verzweiflung ihrer Figuren und ihr daraus resultierendes Verhalten plausibel zu erklären. Dabei lässt sich der zentrale Interessenkonflikt gut nachvollziehen: Jay sehnt sich nach Liebe und einer festen Bindung, während die mit einem Taxifahrer verheiratete Claire von ihrem Mittwochslover unabhängig bleiben will. Für die Nestwärme hat sie einen Ehemann zuhause; Jay ist für die Leidenschaft zuständig. Aus diesem Konflikt entwickelt Chéreau ergreifende Szenen, doch er zerstört die im Detail vorhandene psychologische Glaubwürdigkeit durch nervtötende, schwach definierte Nebenfiguren.

Jay hat einen heruntergekommenen, hochgradig neurotischen Freund namens Victor (Alastair Galbraith), der immer im falschen Moment bei ihm auftaucht. Was will Chéreau mit dieser Figur sagen? Vielleicht, dass die ganze Welt ein Tollhaus ist? Victor ist eine Knallcharge wie aus einer Ohnsorg-Klamotte, nur dass er die Lacher nicht freiwillig erzeugt. Die Figur des Victor sorgt auch für unbeabsichtigte sexuelle Subtexte. Chéreau scheint einer jener altmodischen, verklemmt-bürgerlichen Schwulen zu sein, die sich erfolglos hinter heterosexuellen Figuren verstecken. Victor ist ganz offensichtlich auf Claire eifersüchig und macht Jay Vorhaltungen, weil er die Frau bei sich empfängt. Wenn Jay hinter dem Tresen steht, tauschen er und der tuntige Aushilfsbarkeeper Ian (Philippe Calvario) bedeutungsschwere Blicke aus. Beim Sex liegt Jay oben, damit wir ihn begutachten können. Von Claires Körper ist weniger zu sehen, nicht weil Chéreau mehr Respekt vor seiner Darstellerin Kerry Fox hat, sondern weil er ihren Körper nicht so begehrt wie den von Mark Rylance. Wenn Jay später noch mit einer redseligen Party-Bekanntschaft ins Bett geht, ist es erneut sein Körper, der den Zuschauerblicken angeboten wird.

Weitere Unstimmigkeiten sind zu beklagen: Jay arbeitet in einer ziemlich vornehmen Bar und kann dabei nicht schlecht verdienen, dennoch sieht es bei ihm zuhause wie in einem Luftschutzkeller aus. Claire soll eine mittelmäßige Schauspielerin sein, doch der grandiosen Kerry Fox nimmt man das behauptete geringe Talent nicht ab. Auch Marianne Faithfull als ihre Freundin Betty besitzt zu viel Präsenz, um als unscheinbare Amateurdarstellerin zu überzeugen. Die Kellerbühne, in der Claire spielt, befindet sich direkt neben den Klos (»Toilets and Theatre» steht an der Tür), und im Zuschauerraum stinkt es nach Pisse.

Chéreau ist kein Klischee zu billig, um schlechte Laune zu erzeugen. Ein paar notwendige Zwischentöne bringt der aus Mike Leighs Filmen bekannte Timothy Spall ein. Er verkörpert Claires betrogenen Ehemann, der allen Grund hätte, schlecht gelaunt zu sein. Aber Spall lässt sich von Chéreaus Frustmonotonie nicht anstecken.

Merkt Chéreau nicht, wie lächerlich er sich mit seiner gekünstelten Tristesse, mit seinem bierernsten Sex-ist-Scheiße-Gejammer in einer Zeit macht, in der uns das Fernsehen permanent die Banalität des Swingerdaseins vorführt? In »Intimacy« steckt durchaus ein Meisterwerk, aber der Regisseur hat seine Phantasien nicht genügend unter Kontrolle, er schwankt zwischen Offenherzigkeit und Verklemmtheit.

Richtig verklemmt war dann auch sein Auftreten auf der Berlinale-Pressekonferenz. Kein bisschen frech wirkte er, nur larmoyant und ausweichend. Auf die Frage: »Wie haben sie eine international bekannte Schauspielerin wie Kerry Fox dazu gebracht, vor der Kamera Fellatio zu praktizieren?» antwortete Chéreau: »Sie ist Schauspielerin, das gehörte zur Rolle.« Keine weiteren Fragen.

»Intimacy«, F 2001. R: Patrice Chéreau. Start: 7. Juni