Alternative Lebensformen

Sushis und Szenis

Am Kreuzberger Heinrichplatz fliegen nicht nur Steine wie alljährlich am 1. Mai, jetzt fliegen auch die Fetzen - zumindest verbal.

Wer sich auf die Bänke vor dem recht beschaulichen Café »Bateau Ivre« setzt, die flanierenden Kreuzberger und Kreuzbergerinnen beobachtend, muss sich auf ernste Gespräche gefasst machen. Der Grund ist Mama Su, die Sushi-Bar gegenüber. Mama Su hat gerade erst eröffnet, und es ist eine wahre Freude, in dem hellen Laden an der Theke zu stehen und dem Sushi-Mann bei der Arbeit zuzusehen: wie er den roten Lachs oder einen Tintenfisch packt und mit dem schärfsten aller Messer Scheibe für Scheibe abtrennt, um sie in Reis und Seegras einzuwickeln.

Takeshi Kitano hat freilich in »Brother« noch eine andere Verwendung für das Supermesser gefunden; es eignet sich hervorragend zum Abtrennen eines kleinen Fingers von abtrünnigen Gangstern.

Aber wo Sushi draufsteht, ist Yuppie drin. Das glaubt zumindest so mancher Gast im Café gegenüber. Und tatsächliche oder vermeintliche Yuppie-Restaurants sind in der Vergangenheit des öfteren mit Kot besudelt worden. Vor ein paar Jahren fiel ein italienisches Spezialitätengeschäft dem schlechten Geschmack zum Opfer. Ein Geschäft, von dem heute so manche Steinewerfer-WG ihren Espresso und Parmigiano bezieht.

Dennoch stößt manchem am Heinrichplatz nicht der rohe Fisch von Mama Su übel auf, sondern die sympathische Dame, die von jeder Fensterscheibe lächelt. »Wer kann sich das denn leisten?« fragen besorgte Mitmenschen, am Bier für fünf Mark schlürfend. Der Einwand, dass ein paar Häppchen Fisch oder ein Reisgericht bei Mama Su nicht teurer sind als ein Teller Döner oder eine indische Hühnchenspeise ein paar Meter weiter, gilt nicht: »Schon das Design zieht ein bestimmtes Publikum an.«

Das ist wahr, aber es ist genau dasselbe Publikum, das in den Kneipen und Cafés am Platz abhängt, abgesehen von ein paar Goldkettchen-Türken, die nach Kitanos Westcoast-Rappern auch die kulinarische weite Welt kennen lernen wollen.

Noch aber ist nicht aller schönen Sommertage Abend am Heinrichplatz, und so könnte es sein, dass die Abstimmung mit den Füßen Mama Su recht schnell in die Kiezfamilie zwischen SO 36, Naturkost- und Szenebuchladen holt. Es wäre eine Bereicherung, und wir empfehlen folgendes Oranienstraßen-Menü: Vorspeise Sake Maki für drei Mark, danach ein Chicken Döner für 2,50 Mark als Hauptgericht, ein Stück Baklava für eine Mark als Nachtisch und einen Espresso für 1,50 Mark, um munter durch die Nacht zu kommen - macht zusammen acht Mark. Besser und billiger auswärts zu essen, geht nicht.

Kreuzberg kann so schön sein! Nicht nur am 1. Mai.